Und Emmeran fing an zu erzählen.
ARGE / LESUNG
14/03/11 Eine Lesung mit Tubabegleitung gibt es nicht alle Tage – auch nicht Literatur des ländlichen Alpenraums in der ARGE. Am Freitag (11. 3.) trat Christian Lorenz Müller bei der Präsentation seines Debütromans „Wilde Jagd“ den Beweis an, dass diese Kombination durchaus ihren Reiz haben kann.
Von Harald Gschwandtner
Noch vor kurzem schien das Genre des Heimat- oder „Provinz“-Romans tot zu sein. Hans Lebert oder Franz Innerhofer hatten die Verklärung des archaisch-ursprünglichen Landlebens in den 60er und 70er Jahren so eindrücklich wie nachhaltig verabschiedet. Der Darstellung ländlicher Lebens- und Arbeitswelt haftet seither der Mief des Konservativen, des Rückwärtsgewandten an.
So war 2008 Reinhard Kaiser-Mühleckers Debütroman „Der lange Gang über die Stationen“ (wie Christian Lorenz Müllers Text bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen) gerade für das bundesdeutsche Feuilleton eine Entdeckung mit beinahe schon exotischem Flair. Plötzlich war der Grundstein gelegt für eine neue, junge Literatur des ländlichen Raums.
Schweigsamkeit, Ruhe und Bescheidung im alltäglichen Handwerk schienen dabei auf eine medial überinformierte und beschleunigte Welt einen neue, seltsame Faszination auszuüben. Und so ist es mittlerweile wieder möglich, den Autor als Bauern zu inszenieren und trotzdem das Studio der ARGE mit einem recht jungen Publikum zu füllen.
Während sich Kaiser-Mühleckers Interesse mit seinem jüngst erschienenen dritten Roman nun Richtung Südamerika verlagert hat, darf Müller sich noch in heimatlichen Gefilden austoben: „Wilde Jagd“ erzählt die Geschichte des wortkargen Bergbauern Emmeran, der im Südbayrischen gemeinsam mit Bruder Hans, Schwägerin Burgl und den drei Kindern auf einem recht abgeschiedenen Hof lebt. Früh deutet sich an, dass die fehlende Redseligkeit nicht nur Ausdruck oder Produkt der gleichförmigen Lebensweise ist, sondern vielmehr im Vergangenen wurzelt.
Als der wissbegierige Neffe Johannes schon nach wenigen Seiten bei einem Arbeitsunfall eine schwere Kopfverletzung erleidet, bricht die dörfliche Welt, in der er „recht zufrieden vor sich hin gewerkelt“ hatte, auf.
Der Neffe ist es dann auch, der seine Erinnerungsarbeit vorantreibt. Er will wissen, warum Emmeran finstere Holzmasken schnitzt, will erfahren, „wie es auf dem Moosbichl war, bevor ich auf die Welt gekommen bin“. In die Situation gedrängt, sich für seinen Lebensweg rechtfertigen zu müssen, gerät er in die Defensive. Johannes ist der Fragensteller, der die Erinnerung, das Erzählbedürfnis in Schwung bringt. Und auch Katja, die als Johannes’ Krankenschwester die Bühne der erzählten Welt betritt, bringt den Protagonisten durcheinander: „Emmeran zögerte, es erstaunte ihn, dass er so redselig war, obwohl er nicht einen einzigen Schnaps, nicht einmal ein Helles getrunken hatte.“ Kommunikative wie libidinöse Aktivität, die für sein soziales Umfeld ansonsten eng mit dem Genuss alkoholischer Getränke verbunden sind, ‚passieren‘ ihm nun am helllichten Tag.
Dabei verfolgt Müller das recht konservative Erzählkonzept einer Erweckungsgeschichte mit zwischenzeitlichen Rückblicken in Emmerans Adoleszenz: Die Krise am Beginn des Romans setzt einen Reflexionsprozess in Gang, der im Schlusssatz kulminiert: „Und Emmeran fing an zu erzählen.“ Die schöne Frau aus der Stadt, die sich für die Landwirtschaft und nicht zuletzt auch für den Landwirt zu interessieren beginnt, reißt die Narben der Vergangenheit auf, um sie – ihrer Profession als Krankenschwester gemäß – zu heilen.
Spannung mag dabei kaum aufkommen: Zu offensichtlich sind die Wege, die die Erzählung und ihre Figuren nehmen werden, schon vorgezeichnet; zu holzschnittartig mitunter die Differenz von Stadt- und Landmenschen gearbeitet. Überhaupt stehen die eindrücklichen Szenen ländlicher Alltagswelt und individueller Vereinsamung oftmals recht schroff neben schiefen, zum Teil komödiantisch anmutenden sprachlichen Bildern und einem standardsprachlich seltsam überformten Dialekt.
Nichtsdestotrotz liegt mit Müllers Roman hier ein Debüt vor, das auch über seine eigenen Bedingungen nachdenkt – etwa wenn von einem Journalisten erzählt wird, der bei der Großmutter gewesen sei und geschrieben habe, „dass der [!] Butter der Großmutter blumig schmecke und kräutrig“. Öffentliches Schreiben über das private Landleben – ein weites Feld.