„Mein Land ist im Sterbebett“ - die Toleranz auch?
DEUTSCHER BUCHPREIS AN JUNG UND JUNG-AUTORIN
06/10/10 „Es ist egal ob Frau Melinda Nadj Abonji einen guten Roman geschrieben hat oder nicht. Die Jury wollte offenbar ein politisch korrektes Signal gegen den Bestseller in Deutschland setzen. Nach dem Friedensnobelpreis (Obama), Medizin (2010) hat sich auch dieser Preis diskreditiert.“ Das postete ein FAZ.net-Leser einen Tag nach der Verleihung des „Deutschen Buchpreises“ an Melinda Nadj Abonji. Ihr Roman „Tauben fliegen auf“ ist im Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen.
Von Heidemarie Klabacher
Nun wird beim „Deutschen Buchpreis“, der heuer zum sechsten Mal vergeben wurde, ja alle Jahre wieder diskutiert, ob es mehr um die Auszeichnung von Gegenwartsliteratur oder doch mehr um die Ankurbelung der Buchwirtschaft geht. Mit der Vergabe des Preises an Melinda Nadj Abonji kommt ein weiterer Aspekt dazu.
Die an die 1968 in Serbien geborene Autorin lebt seit ihrer Kindheit in der Schweiz. Sie erzählt, entlang ihrer eigenen Geschichte, von einer serbisch-ungarischen Familie, die in den Siebzigerjahren in die Schweiz emigriert, einen Waschsalon, dann ein Kaffeehaus betreibt, sich geradezu übereifrig zu assimilieren bemüht - und doch immer fremd und ausgegrenzt bleibt.
Die Postings nach der Preisverleihung in Frankfurt allein auf FAZ.net lassen aufhorchen: „Diese armen, unglücklichen Einwanderer – warum kehren sie nicht in ihr Heimat zurück? … Der Ausländeranteil in der Schweiz beträgt 23 %, 80 % der Straftaten werden von Ausländern verübt, 20 % von Schweizern. … Frau Melinda Nadj Abonji sollte Ihren ausländischen Freunden die Ursache dieser angeblich fremdenfeindlichen Plakate erklären, sich für das Benehmen einiger Ausländer und für deren in der Schweiz verübten Straftaten schämen und sich von ihnen distanzieren. Das ist aber kein Thema für sie, denn schuld sind sowieso die Schweizer, die sich den Ausländern viel zu wenig anpassen und obendrein noch die Frechheit haben, sich über die durch die Migration verursachten Kosten zu beschweren.“ Das postet eine FAZ-Net-Leserin.
Oder: „… Scheinbar werden derartige Preise nach politischen und sozialen Gesichtspunkten vergeben, solange ein Text soziale Fragen anspricht, die dem Komitee gerade bedeutsam erscheinen und am besten auch noch autobiographisch ist (der abscheuliche Fluch so vieler moderner Romane), eignet er sich für diesen Preis.“ Jemand anderer stößt sich an dem Satz „Die deutschsprachige Literatur hat einen Migrationshintergrund“ im Vorspann des FAZ-Artikels und ätzt: „Oh weh, da weiss ich schon, was ich von dem Rest solcher Veranstaltungen zu halten habe.“
Das Niveau dieser Postings ist relativ hoch, die Sprache korrekt (Die Beiträge von Chatroom-Besuchern weniger elitärer Medien will man sich lieber nicht vorstellen. Aber die erfahren vielleicht gar nicht soviel über den „Deutschen Buchpreis“ und seine Verleihung an eine „Ausländerin“). Der feindliche Unterton dieser Beiträge ist dennoch beängstigend: Weil es immer stärker der allgemein tolerierte Unterton derzeitiger gesellschaftspolitischer Entwicklungen zu sein scheint.
Wollte die Jury zum Deutschen Buchpreis tatsächlich vor allem ein „politisches“ Zeichen setzen gegen Thilo Sarrazin und sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, wie in einem der FAZ-Postings vermutet wird? Dann hat sie immerhin ein vernünftiges Zeichen gesetzt: Es scheint notwendig zu sein, der beängstigend um sich greifenden und immer offener tolerierten Hetze gegen „Ausländer“ oder Andersgläubige Zeichen von Toleranz und Bereitschaft zur Auseinandersetzung entgegenhalten.
Darüber hinaus verdient die - mit ihren langen Satzgebilden durchaus nicht immer leicht lesbare - Sprache Abonjis einen Preis für ihre intensive Farbigkeit und Anschaulichkeit.
Was an Melinda Nadj Abonjis Roman „Die Tauben fliegen auf“ besonders packt, sind nicht nur die Darstellung mehr oder weniger subtiler Ausgrenzung oder die aktuellen zeitgeschichtlichen Bezüge (einmal geraten - mitten in der Schweiz - im Kaffeehaus der Familie Kocsis eine Bosnierin und eine Kroatin aneinander). Berührend ist die Schilderung der Sehnsucht der Kocsis-Töchter Nomi und Ildiko (das ist die inzwischen erwachsene Ich-Erzählerin) nach der verlassenen Heimat. Stark ist das Bedürfnis der Mädchen, sich bei ihren Besuchen „daheim“ zu vergewissern, dass im Dorf und im Haus noch alles genau so ist, wie es immer war: „Weil wir beide die Angst hatten, nichts mehr mit unserer Heimat zu tun zu haben, wollten wir die Zeit einholen, in der wir nicht da gewesen waren, und in diesem Wettrennen waren wir unsäglich erleichtert, wenn wir uns an ganz banalen alltäglichen Dingen orientieren konnten…“
Melinda Nadj Abonji schildert da - weit über alle Politik hinaus - in ebenso genrehaften wie überindividuellen Bildern das Bedürfnis von Kindern nach der Sicherheit des Unwandelbaren.