Schöne Aussichten?
LITERATURFEST / DEBÜTS
18/05/17 Literatur erzählt vom Leben. Vom Leben, das war, das ist und das sein wird. Letzteres kann Angst machen. „Schöne Aussichten“ – so das Motto des Literaturfests 2017 – ist dann unter „Gänsefüßchen“ zu setzen. Im Booklet sinnieren die geladenen Autorinnen und Autoren über die Zukunft. So auch die beiden Debütantinnen Luise Maier und Alina Herbing.
Von Heidemarie Klabacher
Luise Maiers Debütroman „Dass wir uns haben“ ist erst heuer im Wallstein Verlag erschienen, also beinahe noch druckfrisch. Sie hat für das Booklett zum Literaturfest Salzburg einen fiktiven Brief verfasst: Nach dem intensiven Wochenend-Seminar „Schöne Aussichten – eine Visionssuche, Katastrophensimulation und Meditation“ hat ein Kursteilnehmer einen Traum, um dessen Deutung er den Referentin bittet:
„Ein Kind und vier Männer standen mitten in einer leeren Landschaft um eine große Grube, die mit Plastikmüll aufgefüllt war. Sie alle waren die gleiche Person, nur verschiedenen Alters: einer von den Männern war schon alt, die anderen drei waren jung. Das Kind stand neben dem Alten am Grubenrand. Es blickte zu ihm hinauf und sagte: „Meine Mutter meint, dass ich einmal 150 Jahre alt werden kann!“. Einer der Jungen rannte unaufhörlich um die Grube herum, riss sich ein Kleidungsstück nach dem anderen vom Leib und schrie Sätze wie „An Bäume ketten!“, „Menschen, Tiere, Leben retten!“. Der Alte starrte in der Grube und murmelte: „Meiner Meinung nach muss man die Welt nicht schützen, sie schützt sich selbst. Ich selbst bin in die Wälder gezogen und habe Pilzarten erforscht. Vor einem Monat hat sich meine Mühe endlich ausgezahlt: ich habe eine neue Art entdeckt, die sich ausschließlich on Plastik ernährt.“ Dem folgte die Stimme des zweiten Jungen, der dem Alten entgegenschrie: „So ein Bullshit! Die Welt kippt um, jetzt, wo alle zu uns kommen! Ich habe das nämlich erforscht: ich habe die Masse von all den Menschen, die in den letzten drei Jahren nach Deutschland geflüchtet sind, zusammengerechnet und sie als Gummibärchen auf meinen Globus genau auf Deutschland geklebt. Der ist umgefallen!“ Der dritte Junge lag die ganze Zeit über vollkommen lethargisch auf dem Boden und jammerte: „Für jeden Scheiß muss ich Geld zahlen. Wenn ich beispielsweise im Supermarkt Brot und Klopapier kaufe, dann zahle ich dafür, Fressen und Scheißen muss der Körper sowieso – aber ich soll dafür bezahlen!“ Plötzlich hörte der Nackte auf zu rennen, kniete sich an den Rand der Grube, klaubte ein Plastikstück nach dem anderen heraus und begann es zu essen. Der Lethargische robbte auf dem Boden zu ihm und machte es ihm nach. Der zweite fischte ganze Plastikteile aus der Grube und begann, eine Mauer um sich zu bauen, die immer wieder in sich zusammenfiel und das Kind sprang mit einem Satz in die Grube, von der es sofort verschluckt wurde. Nur der Alte lief zwischen allen hin und her und rief: „Denkt an den Pilz, so denkt doch an den Pilz!“ Ich hörte einen der beiden Jungen noch mit vollem Mund antworten „Ich fress so lange weiter, bis sich dein Pilz in meiner Darmschleimhaut angesiedelt hat!“, dann wachte ich auf.“
Alina Herbings Romandebüt „Niemand ist bei den Kälbern erschien“ ist bei Arche – ebenfalls 2017 – erschienen. In ihrem Booklet-Text für das Literaturfest Salzburg gerät die schöne heile Welt im IKEA-Katalog ins Wanken:
„Wenn ich aus meinem Fenster sehe, ist da der Himmel zwischen den Ästen des Ahornbaums. Ich sehe die ersten Blätter, die sich langsam entfalten an den Enden der Zweige. Ein Spatz, der sich den Schnabel an der Rinde putzt, schaukelt auf und ab. Auf dem Tisch vor mir liegt der Brief, da drauf ein IKEA Prospekt. Mit Schöne Aussichten ist es betitelt. Mach einfach mehr aus deinem Zuhause mit tollen Accessoires und frischen Dekoideen. Da drunter rustikale Teller, auf denen Schalen und Tassen stehen, 2,99 kostet die SOMMAR. Ein Messer liegt auf der Untertasse. In der Klinge spiegelt sich die Tischdecke aus 100 Prozent Baumwolle für nur 17,99. Hinter dem Preis rauscht das türkisfarbene Meer. Eine Muschel hängt in das Bild. Jemand hat Steine auf die Tischdecke gelegt, damit sie nicht wegfliegt, drei flache Steinchen aufeinandergeschichtet und einen großen runden hinter die Teller und Schalen, vor die Flasche mit roséfarbener Flüssigkeit. Eine Welle schwappt gegen die Siebzehn. 99 Cent verschwinden im Wasser, werden einfach fortgespült.
Dann kommt Wind auf, wird immer stärker und reißt an der Tischdecke, das Geschirr klappert, das Messer rutscht von der Untertasse, Sand rieselt auf die Teller, ist plötzlich überall, in den Schalen, in den Tassen. Die Muschel schlägt gegen die Flasche, das Meer rauscht und der Stoff schlackert im Wind zwischen den Tischbeinen. Von den Tellern kann man nicht mehr essen, und der Wind treibt die Körnchen hin und her, zu Mustern zusammen, in Bahnen und Reliefs auf der Steinzeug-Glasur. Dort, wo mal Aussichten stand, steht nur noch Auss, das Schöne ist zu einem Sch geworden, den Rest hat der Wind mit sich gerissen, Sch…Auss.
Mach einfach mehr…toll… Wolken ziehen über die Messerklinge, Schatten, Sand und die Gischt spritzt salzige Spritzer auf das günstige Geschirr. Jetzt können auch die Steine die Decke nicht mehr auf dem Tisch halten. Sie weht um die Teller, legt sich auf die Tassen, verschiebt die Schalen, Quietschen, das Messer fällt auf den Stoff, die Luft ist aus Sand, der das Steinzeug mit sich reißt. 2,99 verschwinden im Wind. Die Baumwolle fliegt davon. Das Meer ist immer noch türkis, etwas grüner an manchen Stellen, fast so wie die Schalen waren, und der Sand sammelt sich in verwehten Bahnen auf dem leeren Tisch aus Holz. Ein Luftzug zieht das Fenster in die Angeln. Der Brief segelt auf den Boden. Zwei Spatzen picken an der Ahornrinde, bis eine Krähe auf dem Schornstein landet und in den Himmel starrt.“
DrehPunktKultur dankt dem Literaturfest für die Erlaubnis zum „Abddruck“ der Booklet-Texte