Ein Onkel aus dem Nichts
LESEPROBE / ZIER / KOMPLIZEN DES GLÜCKS
13/02/15 „Das alte Haus muss weg“, heißt es schwungvoll im „Hausgeisterhaus“. Und auch das desolate Bauernhaus stört die Häuslbauer-Schlaftstadt-Spekulanten-Idylle irgendwo im Salzburger Land. Aber der „lustvollen Alltagsanarchie“ der Familie Wirring bietet es ein verlässliches Zuhause. Bis eines Tages ein sterbenskranker Mann in der Tür steht… O. P. Ziers neuer Roman „Komplizen des Glücks“ ist im Residenz Verlag erschienen. – Hier eine Leseprobe.
Von O. P. Zier
An einem frostigen Winternachmittag stand ein wildfremder Mann vor unserer Haustür und behauptete, mein Onkel zu sein.
Das heißt, zuerst sagte er lange gar nichts, bevor er so verzagt, mit sich kaum bewegenden Lippen murmelte, dass ich große Mühe hatte, seine Worte zu verstehen: »Die Mutti lebt nicht mehr …«
Nach einer mehrtägigen Tauwetterphase war es hier bei uns im Salzburger Gebirge wieder schneidend kalt geworden, und schon seit Stunden schneite es in feinen Flocken. Doch der Fremde mit dem altertümlich aussehenden Koffer in der Hand, den er nicht abstellte, als wäre er es gewohnt, ohnehin sofort an der Tür abgewiesen zu werden, trug einen für diese Witterung viel zu dünnen marineblauen Staubmantel, eine leichte, hellgraue Sommerhose, ausgetretene Halbschuhe und weder Kopfbedeckung noch Handschuhe. Auf seinem schütteren, dünnen, fettig wirkenden Haar und seinen Schultern sammelten sich die harten Kristalle der Schneeflocken, die kaum größer waren als Schuppen. Der Teint des Fremden wirkte ungesund; die blasse, rot gefleckte Gesichtshaut war trotz der Kälte von einem dünnen Schweißfilm überzogen.
Natürlich suchte ich in den Gesichtszügen des Unbekannten sofort nach Ähnlichkeiten mit meinem Opa, kaum dass der Mann die ungeheuerliche Behauptung ausgesprochen hatte, dass Pete Wire sein Vater sei. Und unerwartet schnell erinnerte mich der Anblick des Gesichtes dieses Fremden tatsächlich an meinen Großvater. Ins Haus bat ich ihn allerdings erst, nachdem er beiläufig erwähnt hatte, auf der Durchreise zu sein.
Als er mir auf meine Einladung hin seine knochige kalte Hand reichte, fühlte auch sie sich feucht an. Beim Drücken der roten, verfrorenen Finger überkam mich einen Moment lang die Vorstellung, ein dem Tiefkühlschrank entnommenes und nur angetautes, rohes Kotelett angefasst zu haben.
Als ich den Fremden so verdattert vor mir stehen und kein Wort herausbringen gesehen hatte, hatte ich zuallererst natürlich daran gedacht, dass er – wie manch anderer Gestrauchelter vor ihm – in eine der Wohnungen in unserer Straße eingewiesen worden war, die vom Sozialamt vergeben wurden, und sich bloß in der Hausnummer geirrt habe oder sich von mir Hilfe beim Auffinden des entsprechenden Wohnblocks erhoffte.
Ich hatte doch keine Erfahrung mit Onkeln oder Tanten, so sehr ich mir in meiner Kindheit gelegentlich auch welche gewünscht hatte, vor allem dann, wenn Schulfreunde von der Freigiebigkeit ihrer kinderlosen Tanten geschwärmt hatten, die noch dazu meist darauf spezialisiert zu sein schienen, haargenau all jene Wünsche zu erhören, zu deren Erfüllung sich die Eltern niemals bereitgefunden hätten. Nein, die Wirrings waren eine Familie der Einzelkinder. So wenig, wie meine Eltern Erfahrungen mit Geschwistern hatten, hatte ich, das Einzelkind von zwei Einzelkindern, Erfahrungen mit Onkeln. Und schon gar nicht mit solchen, die dermaßen überraschend aus dem Nichts eines stürmischen Wintertages
auftauchten!
Mit seinem fahlen Gesicht und der für die Jahreszeit nicht nur völlig unpassenden, sondern überdies längst aus der Mode gekommenen Kleidung hätte man den Fremden durchaus für einen gerade entlassenen Häftling halten können, für den seine Bewährungshelferin in den Plattenbauten unserer Nachbarschaft eine Bleibe gefunden hatte.
Grundiert mit Sozialkitsch, hätte sich folgende Geschichte ergeben: An einem Sommertag eingesperrt und jahrelang hinter Gittern gewesen, trage er jetzt die Kleidung von damals – weil er keinen Menschen mehr habe, der ihm wärmere Sachen ins Gefängnis bringen könnte.
Es schien mir, als habe der Mann, der sich als mein Onkel ausgab und behauptete, ein unehelicher Sohn meines Großvaters und damit der Halbbruder meiner Mutter zu sein, die bislang davon ausgegangen war, keine Geschwister zu haben, mit einem einzigen riesigen Schritt einige Jahrzehnte übersprungen. Er wirkte auf mich tatsächlich so desorientiert, als irre er nach sehr langer Haft durch eine ihm sehr fremd gewordene Welt. Erst später sollte ich kapieren, dass der Eindruck von Desorientierung auf die starken Medikamente zurückzuführen war, die der neue Onkel schluckte.
Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages.
O. P. Zier: Komplizen des Glücks. Roman. Residenz Verlag Salzburg St. Pölten 2015. 360 Seiten, 22,90 Euro – e-Book - www.residenzverlag.at
O. P. Zier präsentiert seinen neuen Roman an folgenden Stationen - 19. Februar: Literaturhaus Salzburg; 20. Februar: Bibliothek Bad Hofgastein; 24. Februar: Österreichische Gesellschaft für Literatur Wien; 22. März: Rauriser Literaturtage; 14. April: StifterHaus Linz; 28. Mai: kultur:treff, St. Johann im Pongau
Bild: RV/Lukas Beck