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Private und philosophische Widersprüche

LESEPROBE / LEHNER / LEOPOLD KOHR

28/02/14 „Die Grundlage dieses Buches bilden die mehr als 50 Stunden langen Gespräche mit Leopold Kohr, die ich 1993 und 1994 auf Tonband aufgezeichnet habe“, berichtet der Salzburger Journalist Gerald Lehner im Vorwort. Es seien „international keine anderen Quellen bekannt, in denen der Philosoph selbst über sein Leben so ausführlich berichtet hätte“. Dieses Material also ist eingeflossen in das in der Edition Tandem erschienene Buch Das menschliche Maß. Eine Utopie? – Eine Leseprobe.

Von Gerald Lehner

096Wie widersprüchlich, charmant und aufschlussreich Kohr auf die Licht- und Schattenseiten der Provinz reagierte, zeigen seine vielen Besuche in der alten Heimat Oberndorf nach 1945. Kam er aus den USA, Puerto Rico oder Wales zu Verwandten und Freunden ins Land Salzburg, so pries er den landschaftlichen Zauber und das scheinbar intakte Dorfleben über alles. Waren einige Tage vergangen, konnten ihm Provinzialismus, Tratsch und die ewig gleichen Geschichten schnell auf die Nerven gehen. Kohr sehnte sich nach Cocktail-Partys und anderen Genüssen urbaner und universitärer Zentren. In Kohrs Philosophie liegt ein Schlüssel zum Verständnis der globalisierten Welt. Er sah die Region und ihre Selbstversorgung als Waffe gegen große Nationalismen. Immer wieder zitierte er die Schweiz und ihre autonomen Kantone als Vorbilder.

Kulturell und sprachlich zwar sehr unterschiedlich, würden die Volksgruppen der Schweiz seit Jahrhunderten zusammenhalten. Kohr stellte die Frage, warum italienische Schweizer nicht von Nationalisten im Rom regiert werden wollen, und warum sich Deutschschweizer nicht von Berlin oder Wien die Gesetze machen ließen. Die Selbstverwaltung der kleinen Schweizer Kantone sei die Ursache. Große Nationalismen hätten da keine Chance. Wegen dieser Struktur sei der Schweizer Staat über Jahrhunderte so widerstandsfähig gegen alle Lockrufe und Spaltungsversuche von außen. Bei seinem Loblied verschwieg er nicht selten die Schattenseiten, die international heftig umstrittene Finanz- und Steuerpolitik der Schweiz, die Skrupellosigkeit bei Waffengeschäften und Schiebereien. Neben der Schweiz verherrlichte Kohr auch das noch viel kleinere Liechtenstein. Kritiker sehen dagegen in beiden Kleinstaaten bewährte Rückzugsgebiete und Geldspeicher für Diktatoren und Steuerhinterzieher.

098Jeder Mensch lebt in einer Region. Glaubt man Kohr, dann ist die Region eine Basis für das Verständnis anderer Regionen und globaler Zusammenhänge. In seinem Buch „The Breakdown of Nations“ betonte er, der Makrokosmos – und sei er noch so groß – sei immer nur Ergebnis der „sich ausgleichenden Vielfalt“, die in der Kleinheit aller Dinge stecke. Im freiwilligen Zusammenspiel und Nebeneinander der geografischen Regionen erkannte er das menschliche Maß für die Politik – unabhängig von großen und kleinen Nationalstaaten. Wer die Vorteile und Schattenseiten der Region kennt, könne diese Erfahrungen auf viele Gegenden übertragen und anwenden.

Kohrs Jünger sehen eine grundsätzliche Ähnlichkeit von Gemeinschaften, die in Grönland nicht anders seien als in Westafrika oder in dichtbesiedelten Stadtteilen von Manhattan und Tokio. Wer in jungen Jahren sein Provinznest möglichst schnell verlassen wolle, um die große Welt und ihre „coolen“ Metropolen kennenzulernen, stoße in vielen Regionen auf Probleme, die sich auf territoriale Größe und Zentralisierung zurückführen ließen. Damit war Kohr der erste Philosoph und Politikwissenschafter, der die territoriale und demografische Größe als Faktoren bzw. Variablen in die Physik der Staatenwelt einführte.

Bekannt und weitgehend unbestritten ist, dass der Mensch für das Leben in Kleingruppen bzw. dörflichen Strukturen geschaffen ist. Auch Hillary Clinton hat in ihrem Buch „It takes a village“ darauf hingewiesen. Warum organisiert sich auch ein Universum wie New York City in „Dörfern“: Greenwich Village, Midtown Manhattan, Lower Eastside oder Little Italy? Es geht um „Neighbourhood“, die auch in den (fast) menschenleeren Weiten Kanadas und Alaskas das Leben leichter macht. Ob man Kohrs Lobliedern auf Überschaubarkeit und Kleinheit zustimmt oder nicht: Tatsache bleibe, so Jakob von Uexküll und das schwedische Parlament in ihren Begründungen zum Alternativen Nobelpreis, ,,dass Kohr unter allen Staatstheoretikern der Neuzeit der Erste war, der das ,menschliche Maß‘ als politischen Faktor erkannte und erforschte.“

Gerald Lehner: Das menschliche Maß. Eine Utopie? Gespräche mit Leopold Kohr über sein Leben. 186 Seiten. Edition Tandem, Salzburg 2014. 17 Euro – www.edition-tandem.at
Informationen über Leopold Kohr: www.kohr.at
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

 

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