Von den Spielarten der Sprachlosigkeit
LESEPROBE / DIETMAR KRUG
19/11/13 Burkhard Van der Waiden, ein deutscher Universitätsdozent, ist mit seiner Familie nach Wien gezogen, um dort die vielleicht letzte Chance zu nutzen, einen Lehrstuhl zu bekommen. Dabei gerät seine familiäre Welt aus dem Lot…. „Ein vielversprechendes gesellschaftsdiagnostisches Debüt“, schrieb Beate Tröger in der FAZ über den Roman von Dietmar Krug. Mehr Freiheit sei ein Familien- und Generationenroman, der weit über das Individuelle hinausreicht: Porträtiert wird „die Sprachlosigkeit einer Familie, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen vor den großen Spiegeln der Wohnung trifft, zu mehr als oberflächlichem Beobachten aber nicht fähig ist.“ – Eine Leseprobe.
Von Dietmar Krug
Der Geruch I
An diesem Morgen lag wieder der Geruch in der Luft. Er hatte ihn gleich wahrgenommen, als er das Schlafzimmer, in dem seine Frau noch schlief, verlassen hatte. Normalerweise liebte er den ersten Schritt hinaus aus dem Dunst der geteilten Nacht, die Helligkeit der weißen Wände, das Gefühl des glatten, sauberen Holzparkettbodens unter seinen nackten Füßen. Aber jetzt war da jener leichte Geruch, der sich in der Wohnung eingenistet hatte. Es war eine Mischung aus Frauenparfüm, Zigarettenrauch und noch etwas anderem, schwer Bestimmbarem. Er kannte die Note, sie gehörte zu seiner Tochter, die nach mehreren Wochen wieder einmal den Weg in die elterliche Wohnung gefunden hatte. Auch ohne den Geruch hätte er gewusst, dass Sophie für diesen morgendlichen Besuch nicht früh aufgestanden war. Sie hatte die Nacht durchgemacht.
Durch die geschlossene Küchentür drang die gewollt bedeutsame Musik eines alternativen Radiosenders. Er zögerte kurz, bevor er die Tür öffnete, atmete ein und spannte Arme und Schultern an, als müsse er sich gegen ein Gewicht stemmen, das die Tür auf der anderen Seite blockierte. Sophie saß auf der Bank hinter dem Glastisch, sie hatte ein Bein angewinkelt und zog ihr Knie mit der Armbeuge gegen ihren Körper. Ihr kurzes T-Shirtgab ein Stück ihres gekrümmten Rückens frei, klar modulierte Wirbel unter gebräunter Haut. Die Bänder eines schwarzen String-Tangas spannten sich über eine Tätowierung, die fast die gesamte Breite ihres schmalen Rückens einnahm, eine dunkle, grün-blaue Fantasiezeichnung mit in sich verschränkten Ranken.
In der Hand hielt sie eine Kaffeetasse, auf deren Porzellan sie mit einem der breiten Silberringe an den Fingern ihrer freien Hand unrhythmisch zum Takt der Musik klopfte. Als ihr Vater die Küche betrat, blickte sie kurz von einer aufgeschlagenen Illustrierten zu ihm auf. Ihre schwarz geschminkten Augen wirkten müde und wach zugleich, dunkel umrändert und in ständiger, fahriger Bewegung.
– Kannst du das mal leiser machen?, sagte er und deutete auf das Radio. Sophie las weiter in ihrer Zeitschrift und ignorierte seine Frage. Er ging zum Schrank und schaltete das Radio aus. Sie hob den Kopf und schaute ihn direkt mit leicht verzogenem Mundwinkel an. Während sie sich eine Zigarette anzündete, fragte sie: – Wo ist Mama? – Wo sie immer um diese Zeit ist, im Bett. Um ihrem Blick auszuweichen, wandte er sich zum Kühlschrank. – Hast du schon gefrühstückt? – Keinen Hunger. Er öffnete die Kühlschranktür und überlegte kurz. Früher, als sie sonntags noch gemeinsam gefrühstückt hatten, durften die beiden Kinder sich etwas Besonderes wünschen. Sophie hatte sich jedes Mal für Spiegelei auf Toast entschieden. Er stellte eine Pfanne auf den Induktionsherd und schlug einige Eier hinein. Da er keinen Toast fand, steckte er zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster. Seine Tochter stand von der Bank auf, ging zu der hydraulisch heb- und senkbaren Anrichte und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein.
Als sie sich Milch aus dem Kühlschrank nahm, stand sie für einen Moment neben ihrem Vater. Durch den Duft aus Kaffee und bratenden Spiegeleiern hindurch nahm er wieder diesen Geruch wahr, das auffällige Parfüm, den Dunst nach Rauch und ungelüfteter Kneipe. Aber dazwischen war noch etwas, eine leicht säuerliche, scharfe Ausdünstung. Es war nicht einfach der vertraute Geruch eines Menschen, der mehrmals seine Kleidung durchgeschwitzt und noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sie zu wechseln. Dieser Geruch war spitzer, aggressiver, chemischer, ein Signal, dass etwas organisch aus dem Lot geraten war.
Während sie Milch in den Kaffee goss, beobachtete er, wie ihre Hände mit den langen, schmalen Fingern die Gegenstände behutsam und erst nach einem leichten Zögern berührten. Sie schniefte und wischte mit dem Handrücken ihre leicht gebogene Nase, von der sie überzeugt war, dass sie ihre Modelkarriere verhindert hatte. Sophie war dünner geworden, was ihre Größe und Langgliedrigkeit noch betonte. Sie trug eine taschenlose Jeans, deren Bund am Bauch so tief geschnitten war, dass der obere Rand ihres Schamhaars sichtbar gewesen wäre, wenn sie es nicht abrasiert hätte. Die leichte Bauchwölbung, unter der sie immer gelitten hatte, war fast verschwunden, so dass ihr gepiercter Nabel unter dem Rand des T-Shirts stärker also sonst hervortrat. Doch etwas schien in ihren Proportionen durcheinandergeraten zu sein. Was es war, bemerkte er erst, als sie wieder in ihre Illustrierte vertieft war und er sie in Ruhe betrachten konnte.
Ihre Brüste waren größer geworden, ihre Fülle bildete einen auffälligen Kontrast zu der Magerkeit ihres restlichen Körpers. Er war irritiert; verstohlen musterte er immer wieder die Konturen ihres Körpers, peinlich darauf bedacht, nicht bei seinen Blicken ertappt zu werden. Seine Befangenheit erinnerte ihn an die Zeit, als er ihre wachsenden Brüste bewusst wahrzunehmen begonnen hatte. Er hatte sich die Veränderung erst wirklich eingestanden, als seine Frau ihre Tochter am Frühstückstisch zum ersten Mal aufforderte, einen Büstenhalter zu tragen.
– Es sei denn, du willst, dass sämtliche Jungs in deiner Klasse dir auf den Busen starren. Er hatte daraufhin gedankenverloren ihre Brüste betrachtet, die sich tatsächlich leicht unter ihrem Schlafanzugoberteil abzuzeichnen begannen. Er wollte etwas Ironisches, die Peinlichkeit Entschärfendes sagen, verstummte aber, als er den Blick seiner Tochter bemerkte. Es lag eine Mischung aus Beschämung und Verstörung darin, die er bis dahin noch nicht gesehen hatte. Sonst kaum um eine Antwort verlegen, rang sie sichtlich mit ihrer plötzlichen Sprachlosigkeit. Es war etwas zur Sprache gekommen, für das sie selbst noch keine Worte hatte. Als nun auch noch Moritz, ihr jüngerer Bruder, von seinem Comic aufblickte und neugierig ihre Brüste betrachtete, verlor sie die Fassung. – Glotz nicht so dämlich. Ihr könnt mich mal.
Dietmar Krug: Mehr Freiheit. Roman. Otto Müller Verlag, Salzburg 2013. 320 Seiten, 22 Euro - www.omvs.at
Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages.
Dietmar Krug präsentiert am Donnerstag (21.11.) um 19.30 seinen Debütroman „Mehr Freiheit“ in der Leselounge in der Bibliothek im UNIPARK in einer gemeinsamen Veranstaltung der Universitätsbibliothek Salzburg und des Otto Müller Verlags. Das Gespräch mit dem Autor führt Anton Thuswaldner.