Ein Lichtstrahl, beim Henker, ja!
LESEPROBE / WERNER THUSWALDNER / DAS JUBILÄUM
05/02/13 Stille Nacht. Kann es sein, dass tatsächlich eine Institution besteht einzig zum Zweck der weltweiten Bekanntmachung dieses einen Lieds? Schwer denkbar, „aber bei uns in Bagdad“ möchte man sagen, frei nach dem legendären Ö1-Kabarett „Watschenmann“. Werner Thuswaldner hat sich eine Geschichte ausgedacht, die sich vielleicht so zutragen könnte. Nur in Bagdad? Hier eine Leseprobe aus Thuswaldners neuen Roman „Das Jubiläum“.
Von Werner Thuswaldner
Meine Premiere fand in einer vierten Volksschulklasse in St. Johann statt. Weil ich zu früh da war, spazierte ich eine halbe Stunde lang auf dem Schulgelände herum und versuchte, mir meinen Text in Erinnerung zu rufen. Über die paar Anfangssätze kam ich nicht hinaus. An meinem Manuskript hatte ich eine Woche lang gefeilt. Die Lehrerin, eine junge, muskulöse, männlich wirkende Frau mit stechenden Augen, erwartete mich im Foyer und bedankte sich überschwänglich für mein Kommen. Einige Kinder sahen mich an, als ich das Klassenzimmer betrat. Die Mehrheit interessierte sich nicht. Die Lehrerin erklärte den Kindern, wer ich sei und sagte, dass ich eine Geschichte erzählen würde. „Kein Film?“, hörte ich und „Wir wollen einen Film!“ Die Lehrerin hatte auf einmal ein Strickzeug in der Hand – da entstand etwas Größeres, ein Pullover wahrscheinlich – und nickte mir ermunternd zu. Jetzt erst sah ich, dass hinten im Klassenraum noch eine andere Frau stand. Wer war das? Weil die Unruhe der Kinder größer wurde, sah ich auf mein Manuskript vor mir auf dem Pult und fing an.
„Jeder von euch kennt das alte Lied, über das ich zu euch sprechen werde. Es ist in unserem Land entstanden, und viele Millionen Menschen auf der Welt kennen es.“ „Meine Mutter mag am liebsten Yesterday von Paul McCartney. Das ist ein altes Lied“, sagte ein rothaariges Mädchen in der ersten Reihe. Ich kam kaum dazu zuzustimmen, als ein anderes Mädchen meinte: „Mein Papa spielt immer ein anderes altes Lied: Satisfaction von den Rolling Stones.“ Die Lehrerin griff nicht ein. Ja, das seien zwei sehr bekannte Lieder, räumte ich ein. Noch nicht ganz so alt wie jenes, das ich meinte. Meines sei ein ganz Besonderes. „Ja, gut, singen wir!“, rief einer, und andere applaudierten.
Mein Manuskript konnte ich vergessen, das war mir inzwischen klar. „Ich will euch nur sagen: Das Lied haben zwei junge Männer gemacht. Der eine hatte den Henker von Salzburg als Taufpaten. Den Henker!“ Da wurde es ruhig in der Klasse. „Das war ein Henker, der hat genau Buch geführt über seine Arbeit. Er war natürlich unbeliebt und wurde auf der Straße nicht gegrüßt. Die Menschen taten, als würden sie ihn übersehen.“ „Wie viel hat ein Henker verdient?“ „Ich weiß es nicht genau, wie viel ihm eine Hinrichtung eingetragen hat. Aber so viel weiß ich: Nicht genug, dass er davon leben konnte. Denn er musste noch andere Arbeiten machen, keine sehr angesehenen Tätigkeiten: In der Nacht die stinkenden Senkgruben entleeren, in die der ganze Unrat der Stadtbewohner floss, und großen toten Tieren, also Kühen und Pferden, musste er die Haut abziehen.“ „Ekelhaft!“, rief ein Kind. „Das war keine schöne Zeit für das ganze Land, denn es wurden blutige Kämpfe ausgetragen, viele blieben tot liegen, andere verloren ihre Beine und Arme. Tausende kamen auf grausamste Art ums Leben, die fremden Soldaten nahmen den Bauern alle Vorräte weg, die sie zur Versorgung im Winter dringend brauchten. Die Folge war, dass die Menschen hungerten. Nicht nur auf dem Land, auch in der Stadt. Da schickten die Eltern die Kinder von Haus zu Haus zum Betteln.“ „Wie hat der Henker die Sträflinge ermordet? Hat er sie aufgehängt?“, fragte ein Mädchen. „Man sagt in diesem Fall nicht ‚ermordet‘. Der Henker hat sie hingerichtet, weil es damals noch die Todesstrafe gab. Er hat sie nicht aufgehängt. Er benützte ein scharfes Schwert und schlug ihnen den Kopf ab.“
Es entstand eine Pause, in der nur das Klappern der Stricknadeln zu hören war. „Pfui Teufel!“, rief einer, und andere seufzten vor Grauen. Das wunderte mich, denn ich nahm an, dass ihnen aus der virtuellen Welt sämtliche Todesarten geläufig waren. Zwei Schüler steuerten Erlebnisse ihrer Urgroßväter aus dem Zweiten Weltkrieg bei. Der eine habe gesehen, wie russische Verräter an Alleebäumen aufhängt worden seien, und der andere sei von einer Granate gestreift worden, und da hätte es ihm den linken Arm abgerissen.
An die Fortsetzung meines Vortrags war nicht mehr zu denken, denn es kamen immer weitere Fragen, etwa ob der Henker töten konnte, wen er wollte, und ob auch Henker selbst manchmal hingerichtet wurden. Ich musste erklären, was die Todeskandidaten verbrochen hatten. Oft seien Unschuldige hingerichtet worden. Weil die angeblichen Verbrecher gefoltert wurden, seien sie dazu gebracht worden, Taten zuzugeben, die sie niemals begangen hatten, nur weil sie nicht länger mit glühenden Zangen gepackt oder von schweren Gewichten der Länge nach gestreckt werden wollten. Das wurde von den Zuhörern nicht einfach so hingenommen, sie wollten ganz genau wissen, welche Foltermethoden angewendet worden waren. Die Rede kam auch auf die Amerikaner in Afghanistan. Die napoleonischen Kriege, der Zweite Weltkrieg, der Irakkrieg, das war für die Schüler alles eins. Ich gab Auskunft, so gut ich konnte, aber ein Schüler verlangte, ich sollte das nächste Mal unbedingt einen Film über die Folterungen und Hinrichtungen mitbringen.
Mein Auftritt in der Schule war ein Fehlschlag. Die Lehrerin bedankte sich überschwänglich. Sie schien froh darüber zu sein, dass sie eine Stunde lang hatte abschalten können, und ihre Strickerei – sie verwendete Knäuel in verschiedenen Farben – war ein gutes Stück vorangekommen. Ich musste es ganz anders machen. Aber wie? Wer war die zweite Erwachsene in der Klasse gewesen? Bloß eine andere Lehrerin? Oder eine Spionin, die Langenbucher Bericht geben würde? Falls dies zutraf, hatte ich Schlimmstes zu befürchten. Meine Erwartung hatte sich bestätigt: Die Monstrositäten der Zeit machten auf die Kinder Eindruck. Aber dabei durfte es nicht bleiben. Ich musste schildern, dass gerade die haarsträubenden geschichtlichen Ereignisse es waren, die das Trostbedürfnis der Menschen ansteigen ließen. Damit sollte klar werden, warum unser Lied zur rechten Zeit einen scharfen Lichtstrahl in die aussichtslose Finsternis senden konnte. Diese Formulierung hatte ich mir schon einmal zurechtgelegt. Sie war damals für einen Nonnenkonvent gedacht gewesen, der aus Deutschland anreisen sollte, wegen eines Busunglücks aber nie bei uns ankam.
Bevor ich in der nächsten Schulklasse auftrat, stellte ich eine Powerpoint-Präsentation zusammen. Schlachtenbilder und Bilder von Plünderungen ließen sich leicht auftreiben. Aus dem Angebot des Tortury Museums in ?eský Krumlov an Bildern von Hinrichtungen mit dem Schwert und verschiedenen Martern wählte ich einige zugkräftige Beispiele. Und tatsächlich gelang es, die Schülerinnen und Schüler einigermaßen bei der Stange zu halten. Auch diesmal wollten sie am liebsten bei der Vollstreckung von Todesurteilen, bei Grausamkeiten, Katastrophen und Sonnenfinsternis bleiben, und wieder waren einige drauf und dran, von Erlebnissen der Urgroßväter im Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Ich unterbrach sie und ließ eine tröstliche Vision im Kontrast zu allen Gräueln entstehen, um so zur Kernaussage unseres Lieds vorzustoßen. Ich zeigte ihnen Bilder des australischen Illustrators Robert Ingpen, der die Geschichte des Lieds illustriert hat. Auf ihnen war genau zu sehen, wie niedergeschlagen die Menschen zuerst waren und wie befreit sie dagegen wirkten, als ihnen das Lied zum ersten Mal vorgesungen worden war. Halb und halb war ich mit meiner Darbietung zufrieden. Meinen Erfolg maß ich am Verhalten der Klassenlehrerin. Zuerst war zwar auch sie intensiv mit ihrem Strickzeug beschäftigt. Im Verlauf meines Vortrags ließ sie es aber sinken und hörte gebannt zu.