Ist das nicht etwa eine Groteske?
LESEPROBE /AMANSHAUSER / ES WÄRE SCHÖN, KEIN SCHRIFTSTELLER ZU SEIN
20/12/12 „Ich war ein Meister im Staunen und eine Null im Glauben“, schrieb er einmal über sich selbst. In dieser Haltung, gleichermaßen offen und radikal skeptisch, richtete er sich über Jahrzehnte auf seinem Beobachtungsposten ein, einem Haus am Hang des Salzburger Festungsbergs, zurückgezogen, aber nicht isoliert, abgekehrt, aber alles andere als gleichgültig.“ So Daniel Kehlmann über Gerhard Amanshauser. Kehlmann hat das Vorwort zu den Tagebüchern Amanshausers geschrieben, die unter dem Titel „Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“ posthum im Residenz Verlag erschienen sind. Gerhard Amanshauser (1928 bis 2006) wäre am 2. Jänner 2013 85 Jahre alt geworden. – Hier eine Lesprobe aus seinen Tagebüchern.
1964 Peschici, August. Vorbemerkung: Da viele Schriftsteller so
tun, als seien sie in die Orte, über die sie schreiben, von Genien hingetragen
worden, möchte ich bemerken, dass der Aufenthalt in Peschici
von meiner Frau bezahlt wurde, die sich dort von ihrer Büroarbeit
erholen wollte. Peschici, eine zufällige Wahl, wir hatten eine Photographie
gesehen: der Strand, die Felsenkuppe, darauf der Ort, relativ
unbekannt, südlich genug für die Nachsaison, also fuhren wir hin.
Peschici, knapp bevor es vom Fremdenverkehr verdorben wird. Die
deutlichsten Anzeichen beginnender Barbarei, die starken Überreste
des Alten. Christentum, Katholizismus, wie es bei uns schon unmöglich
wäre. Plakat: »Chi segue il sacerdote segue Cristo.«
Bari, 1. 10. Die zwei Städte, zwischen denen keine Verbindung zu
bestehen scheint, mit Ausnahme der Motorräder, die in den Altstadtgassen
die Nerven foltern. Die Armen kommen nicht aus der Altstadt
heraus, die Reichen gehen nicht hinein. Ein Besucher kann nirgends
wohnen, in der Altstadt wirkt er unverständlich, findet kein Bett und
kaum einen Tisch, in der Neustadt verfängt er sich in den Netzen des
Fremdenfangs. Kann man am Meer sitzen und Wein trinken? Nein,
dort verläuft eine Durchzugsstraße, dort sind die Hafensperren oder
die Fremdenfang-Restaurants. Vor Jahren saß ich in Rom auf der
Piazza Navona, friedlich Wein trinkend, Oliven essend. Heute? Nicht
einmal mehr in Rom.
Ende Oktober Fluchtcharakter der Wissenschaft. Die Mathematik
als Feenreich. Die Zahlen als Phantome. Raketen, die die Erde verlassen,
um ihrer Misere zu entfliehen, um neue Sensationen zu schaffen,
die das alltägliche Elend übertönen. Der letzte Oktobertag leuchtet
Abschied. Schon das Wort »November« scheint etwas von Zersetzung
mit sich zu führen, den faden Geschmack von Grabkränzen, vor denen
vertrocknete Weiber stehen, und den Vorgeschmack der Weihnachts-
dekorationen, der goldenen Reklameengel, die die Schreckgespenster
der jungen Ladenmädchen sind.
Dezember Ich möchte am liebsten nicht nur der zeitgenössischen
Literatur widersprechen, sondern auch der Literatur seit ungefähr
200 Jahren. Es stört mich ein gewisser familiärer Ton. Als hätte man
sich zuerst den Magen verdorben und dann kotzen müssen. Es war ein
schreckliches Gedränge, jeder machte seine Marotten geltend, erst war
man vom Wein befeuert und ungeheuer eloquent, dann kamen die
Delirien und jetzt steht man vornüber geneigt und würgt. Und dazu
Literaturwissenschaft und Kritik, die das in einem Ton abhandeln, den
sie von den exakten Wissenschaften geborgt haben, ehe diese skeptisch
wurden. Ist das nicht etwa eine Groteske?
Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages.