Die ganze Menschlichkeit ging verloren
LESEPROBE / FEINGOLD / WER EINMAL GESTORBEN IST, DEM TUT NICHTS MEHR WEH
24/05/12 Kaufmann. Reisender. KZ-Häftling. Inhaber eines Modegeschäftes in Salzburg bis 1977. Seit 1977 Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde der Stadt Salzburg. Vortragender. Lehrender. Zeitzeuge: Marko M. Feingold, geboren 1913 in Neusohl in der heutigen Slowakei, wird 99. Jahre alt. Der Otto Müller Verlag hat aus diesem Anlass seine Biographie neu aufgelegt. – Hier eine Leseprobe aus dem Kapitel "Die ganze Menschlichkeit ging verloren – Auschwitz".
VON MARKO M. FEINGOLD
Inzwischen wurde es dunkel. Wir kamen weiter zu einem Duschraum. Davor war ein Raum, in dem einem ein Friseur den Kopf kahlscherte. Ratzekahl. Auch unter den Achseln. Überall. Geschlechtsteile. Überall, wo Haare sind. Man steht pudelnackt da, überall werden die Haare abrasiert oder mit der Maschine ausgeschnitten. Das ist so demütigend, man kann es schwer erklären. An keiner Stelle störte es mich so sehr wie am Kopf. Mein Bruder und ich schauten uns an, beide hatten wir Tränen in den Augen, als wir uns mit der Glatze sahen. Das war einer der schrecklichsten Momente. Man hatte ein Gefühl der Nutzlosigkeit, der Wertlosigkeit, die ganze Menschlichkeit ging damit verloren. Später wurden dann nur mehr die Kopfhaare geschnitten. Alle paar Tage kam dazu ein Friseur, oder wie immer man den Haarschneider bezeichnen sollte, denn zum Glatzenschneiden mußte man ja kein Friseur sein.
Danach gingen wir unter die Dusche. Als wir fertig waren, hatten wir keine Ahnung, wohin wir jetzt gehen sollten. Wir kamen im Halbdunkel heraus, es war schon finster, irgendwo war ein Lichtschein, vorne sah man einen rennen. Der erste wurde geführt – alle anderen wußten dann schon, wohin. So ging einer dem anderen nach in ein Haus hinein. Türen, Fenster, alles fehlte in dem Gebäude. Im ersten Stock gab es einen großen Saal, wo man gerade dabei war, Strohsäcke aufzulegen. In einer Ecke war ein bißchen Licht, dort hatte sich der Stubendienst eingerichtet. Da und dort wurde eine Decke hingeschmissen, und wir legten uns hin. Kleidung hatten wir keine mehr, die war weggenommen und registriert worden. Die Schuhe durften wir behalten, aber ich konnte sie nur drei Tage tragen, dann hatte ich so dicke Füße, daß ich gar nicht mehr hineinkam. Ich schnitt sie dann hinten auf wie Pantoffeln, damit ich hineinschlüpfen konnte.
In der ersten Nacht waren wir also nackt, wir bekamen nichts, kein Hemd, gar nichts. Wir legten uns auf die Strohsäcke und deckten uns mit den hingeworfenen Decken zu. Es wurde elf, zwölf, eins und immer enger, immer mehr Häftlinge kamen, immer mehr Häftlinge legten sich hin. Wenn man sich umdrehen wollte, mußte man einen anderen mitnehmen zum Umdrehen, so eng war das. Wir lagen wie die Sardinen. Manches Mal schrie jemand auf, aber entweder beruhigte sich derjenige wieder, oder es ging jemand vom Stubendienst hin und gab ihm eine.
Am nächsten Morgen, es dämmerte noch, kam das Signal »Aufstehen! Strohsäcke zusammenlegen!« Im unteren Eck des Saals hatte man Kübel hingestellt für die Notdurft. Das Haus war ein Rohbau, hatte keine Wasserleitung, kein Klo, gar nichts. Es war grauslich! Ein Häftling nahm sehr viel flüssige Kost zu sich, man hätte berechnen können, daß von jedem so und so viel kommt und dementsprechend viele Kübel aufstellen können, aber entweder gab es nicht genug oder man wollte sich darum einfach nicht kümmern. So war jeden Morgen unten in der Ecke der Sumpf. Die Strohsäcke neben den Kübeln waren total durchnäßt. Am nächsten Abend, als es wieder hieß »Strohsäcke auflegen!«, wollte sich da unten natürlich keiner hinlegen. Der Stubendienst hat das natürlich auch überzogen, und so mußten wir uns dann aufstellen und marschieren. Sie ließen uns ein paarmal im Saal rundherum gehen. Wer gerade unten am Eck vorbeikam, drängte natürlich, schneller vorbeizukommen, denn wenn ein Pfiff kam, mußte man sich hinlegen, wo man gerade war.