Alles spielt sich im Kopf ab – philosophisch
LESEPROBE / THUSWALDNER / DIE WELT DES DR. HOHENADL
24/01/19 Nichtstuer? Nicht die Welt! Bevor Werner Thuswaldner am Beispiel des Doktor Hohenadl, des Jüngsten von drei Brüdern, uns mit dessen Welt und den „Ansichten eines gelernten Österreichers“ (so der Untertitel) vertraut macht, schenkt er uns Einblicke in seine Familie. - Hier eine Leseprobe.
Von Werner Thuswaldner
Jeder der drei Hohenadl-Söhne musste Jus studieren. Das hatte der Vater so bestimmt. Die Schulzeit hatte jeder von den dreien in einem katholischen Internat verbracht: der Ältere im Linzer Petrinum, der Mittlere bei den Zisterziensern in Bregenz, der Jüngere bei den Benediktinern in Kremsmünster. Erst nach dem Doktorat sollten sie alle mit einer lebenslangen Versorgung ausgestattet werden.
Das Jusstudium war wie so oft in Österreich nicht ernst gemeint, aber es war der einfachste Weg, um zu einem Doktortitel zu gelangen. Der Titel sollte die drei Brüder vor Geringschätzung durch die Gesellschaft schützen. So dachte der Vater aufgrund seiner Erfahrungen.
Außenstehende behaupteten gelegentlich, die Hohenadl-Brüder seien Nichtstuer, die von einem großen Erbe lebten. Sie ließen es sich gut gehen, weil sie lebenslänglich mit einer monatlichen Apanage rechnen konnten. Das war aber nicht richtig. In Wahrheit verstand sich der Vater als Sozialreformer. Er verwirklichte innerhalb der Familie ein Modell, das ein Vorbild für den Staat hätte werden sollen, der Politik fehlte jedoch der Mut dazu. Es blieb bei unergiebigen Diskussionen. Die Hohenadl-Familie dagegen war ihrer Zeit voraus und setzte die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in die Praxis um. Der Vater war ernsthaft der Meinung, ein Beispiel zu setzen und dieses Mittel zur Existenzsicherung werde Furore machen.
Er legte seinen Söhnen jedoch dringend nahe, geistige Arbeit nicht zu scheuen. Dazu seien sie der Gesellschaft verpflichtet. Sie sollten so wie er den scheinbaren Müßiggang kultivieren, in Wirklichkeit aber die geistige Anstrengung jederzeit auf sich nehmen. Der Vater lag fast den ganzen Tag auf einer Chaiselongue und schaute in die Luft, ohne etwas zu lesen, ohne etwas zu hören. Das sah äußerlich nach Untätigkeit aus, war es aber nicht. Die Dialoge beschränkte er auf das Allernötigste. Im Sommer hatte er meist eine Fliegenklatsche in der Hand. Mit ihr ließ er sich, wenn er ein Summen hörte, manchmal zu einer überraschenden Aktion hinreißen, die ihn jeweils sehr erschöpfte. Auf Fragen zu seiner Lebensweise hatte er eine stereotype Antwort parat: „Alles spielt sich im Kopf ab – philosophisch.“
Die Mutter saß nach ihren vormittäglichen Arztbesuchen die meiste Zeit im Büro und wollte keinesfalls gestört werden, wenn sie aus ihren abonnierten Gesundheitsmagazinen Krankheiten, von denen sie noch nie gehört hatte, in eine Liste eintrug. Sie gab sich viel Mühe, in einer eigenen Rubrik auch die dazugehörigen Symptome zu vermerken.
Ein Vermögensverwalter bekam die Aufgabe, ein Auge auf die drei Brüder zu haben und danach zu sehen, wie weit sie den Empfehlungen des Vaters folgten. Er hatte die Vollmacht, bei offensichtlichen Verstößen die monatlichen Zuwendungen, die auf keinen Fall „Apanage“ heißen sollten, zu kürzen oder gar einzubehalten.
Während sie in der Schule waren, freuten sich die Brüder auf die Zeit des Nichtstuns und waren fest davon überzeugt, dass sie es darin weit bringen würden. Bis dahin, so hofften sie, werde sich auch in ihren Köpfen genügend abspielen, womit sie den Vorstellungen ihres Vaters entsprechen wollten.
Tatsächlich schien es ihnen, als die Zeit gekommen war, zunächst leicht zu fallen, die Tage totzuschlagen. Der Ältere sicherte sich nach dem Tod des Vaters die Chaiselongue. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Brüdern schaffte er die Liege in seine Wohnung. Von da an verbrachte er viele Stunden darauf und döste vor sich hin, allerdings ohne dass sich sehr viel in seinem Kopf abspielte, schon gar nichts Philosophisches. Es sah nicht authentisch aus, wie er auf der Chaiselongue lag, und die Fliegenklatsche handhabte er ungeschickt, bei Weitem nicht so souverän wie einst sein Vater.
Der Mittlere machte sich müde, indem er den ganzen Vormittag schnellen Schritts durch die Innenstadt ging. Daran war etwas Unehrliches. Gut, er benahm sich nicht wie ein Flaneur, spielte also nicht eine Rolle, blickte nicht in die Schaufenster, sondern ging zielstrebig dahin. Im Grunde aber hatte sein Gehabe etwas Unechtes, denn er wollte, ohne es sich einzugestehen, jenen auf der Straße gleichen, die ein Ziel hatten, etwa zu einem Termin unterwegs waren und sich gedanklich darauf vorbereiteten. Er kaschierte nur recht und schlecht seinen eindeutigen Wunsch nach einer womöglich sinnvollen Tätigkeit.
Als Dr. Hohenadl, der Jüngere, nach seinem Doktorat mit dem wahren Leben begann, zog er sich in das Sommerhäuschen der Familie in die Lobau zurück. Dort sah er dem Gärtner bei der Arbeit zu, beobachtete die Fische im Weiher und die Insekten, die in den Garten geflogen kamen. Er versuchte, sich für die Natur zu begeistern, und fing an, Aufzeichnungen über seine Beobachtungen zu machen, aber als er feststellte, dass er dabei immer wieder einschlief, ließ er es bleiben und freute sich darüber, weil er diese Müdigkeit als Fortschritt in der Vervollkommnung des Müßiggangs wertete. Im Spätherbst musste er, weil das Sommerhäuschen nicht geheizt werden konnte, zurück in seine Wiener Wohnung am Loquaiplatz. Er ging von einem Raum in den anderen, blieb an den Fenstern stehen und schaute stundenlang hinaus. An der Fassade des Hauses über der Straße kannte er jedes Detail. Er hätte sie mit verbundenen Augen zeichnen können. Die Tauben, die auf dem Sims spazieren gingen, unterschied er genau, gab ihnen Namen wie Robert und Gudrun und freute sich, wenn sie nach längerer Abwesenheit, die ihm nicht entging, Junge mitbrachten.
Alle drei Brüder vermieden es, einen Bekanntenkreis aufzubauen, aus Angst, sie könnten von jemandem, der sich in ihr Vertrauen schlich, überredet werden, einmal etwas Sinnvolles zu tun.
Mit freundlicher Genehmigung des Ecowin Verlags