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Geisterbahn der Geschichte

LESEPROBE / URSULA KRECHEL / GEISTERBAHN

25/01/19 Eindringlich und teilnahmsvoll folgt Ursula Krechel den Lebensspuren einer Sinti-Familie, die der Willkür des NS-Regimes ausgeliefert ist. Wer wie überlebt, aus Zufall oder durch Geschick, danach fragt nach dem Krieg keiner. In Geisterbahn schafft sie aus historischen Zeugnissen ein bewegendes Bild deutscher Geschichte, die bis heute nachwirkt. – Hier eine Leseprobe.

VON URSULA KRECHEL

I Drehschwindel
Damals wurden die Kinder so schnell groß. Mit neun, zehn Jahren trugen sie schon Körbe, trugen Verantwortung, wenn die Eltern nicht da waren, und trugen die kleineren Geschwister. Waren die Kinder so kräftig, daß sie Lasten tragen konnten? Oder hatte das Tragen sie kräftig gemacht? Oder machte es sie stolz? Sie trugen auch Stangen, die zusammengeschraubt werden mußten, und die entsprechenden Schraubenkästchen, Muttern, Manschetten, Muffen und Zangen. Die Karussells wurden zusammengefügt, all das mußte vorschriftsmäßig sein. So fest wie möglich mußten die Schrauben angezogen werden. Wenn der Besitzer des Karussells so aussah, als wäre er ein Zigeuner, wurde doppelt und dreifach geprüft, die Papiere, die Zulassung, die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen, alles. Die Kinder wuselten herum. Die großen halfen, ja, sie waren stolz, große Kinder zu sein und den kleinen einen Weg ins Leben zu weisen. Genauso wie ihre großen Geschwister wollten es die kleinen machen.

Die großen unterschieden sich von den anderen Kindern, mit denen sie in die Schule gingen, und das tat ihnen gut. In der Schule wurden sie geduckt, die Lehrer machten ihnen klar, was sie alles nicht konnten. Richtig Deutsch sprechen zum Beispiel. Sie verwendeten fremde Ausdrücke, also mußten die Ausdrücke falsch sein. Die Kinder kannten eine andere Sprache, eine Geheimsprache, so kam es ihnen vor. Zuhause merkten sie, was sie alles konnten, wie sehr die kleineren Geschwister auf sie angewiesen waren, wie sehr sie sie bewunderten und wie froh die Eltern waren, wenn sie bei der Arbeit halfen. Sie trugen die kleineren Geschwister auf dem Rücken, und niemand warnte oder drohte, sie würden krumm und lahm, die Last sei zu schwer. Auch die Eltern trugen ja Lasten.
Die Kinder brauchten Fingerspitzengefühl. Vielleicht ließ sie das am schnellsten wachsen, nicht das Tragen, nicht das Argumentieren. Sie wuchsen über sich hinaus. Wenn jemand kam, während die Eltern nicht zuhause waren – und es kamen viele, auch und gerade in der Abwesenheit der Eltern –, waren die Kinder Haushüter, Gastgeber, Abwiegler, je nachdem. Es kamen Verwandte, solche, die den heimatlichen Dialekt sprachen, und solche, die Romanes sprachen. Es kamen Besucher, die sich auf den Vater, den Onkel oder ihre verstorbene Großmutter beriefen, die so taten, als überbrächten sie wichtige Nachrichten, die vielleicht nur Wattewölkchen waren, ein drohendes Gewitter oder nervöses Gebell, das man wie bei einem kleinen Hund beruhigen mußte. Oder es kamen Bettler, die so umständlich sprachen, daß man das Anliegen erst mit viel Geduld begriff. Und die noch ziemlich kleinen Kinder mußten einen Ausweg finden, den die sieben Geißlein im Märchen nicht hatten. Es gab keinen Uhrenkasten, es gab keine Geißenmutter, es gab nur gewöhnliche Leute, die vielleicht schon in der nächsten Stunde mehr als gewöhnlich waren oder sogar bedrohlich, Leute, die im Gebüsch lauerten und das Haus im Blick behielten. Was führten die im Schilde? Warum hatten die so viel Zeit? Leute, die etwas verpetzten, die angeblich auf der Stelle Hilfe brauchten oder Geld, was häufig dasselbe bedeutete. Wenn sie am Abend davon erzählten und derjenige, den sie tagsüber im Gebüsch gesehen hatten, wieder auftauchte, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, waren sie still vor Erstaunen, vor Schreck still. Ihr Vater entschied, was zu tun war, er gab dem Fremden einen Wink: Komm rein. Oder er mandelte sich auf, breitbeinig, auch mit breiten Schultern, stand da, als verteidigte er etwas (ja, was?) gegen jeden Übergriff. Und wenn er ungebetene Gäste des Hauses verwies, blieben die Kinder still – vor Bewunderung. Da war etwas gelungen, das keine Worte, aber auch keine Sprache hatte. So lernten sie, den Gesten, den Blicken, den flehentlichen, den verschlagenen, den selbstbewußten, zu trauen. Die Sprachen konnte man übereinanderlegen, und die Wörter paßten, aber nie genau. Die Münder lachten auf ganz verschiedene Weise. Heraus mit der Sprache!, sagte der Lehrer. Aber dann bissen sich die Kinder lieber auf die Lippen.

Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlags

Ursula Krechel: Geisterbahn. Roman. Jung und Jung, Salzburg 2018. 650 Seiten, 32 Euro. Auch als e-book erhältlich - www.jungundjung.at
Am Montag (28.1.) um 19.30 Uhr stellt Ursula Krechel ihren Roman Geisterbahn im Literaturhaus Salzburg vor. - www.literaturhaus-salzburg.at
Bild: Jung und Jung

 

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