Vom Hochstapler, der Gedanken lesen konnte
LESEPROBE / CORDULA SIMON / DER NEUBAUER
09/03/18 Alkohol macht ihn zum Gedankenleser. Der Hochstapler, der die Dummheit der oberflächlichen Hipsterbande ausnützt ist auch ein Improvisationskünstler, der in der glamourösen Tarán seine Liebe findet und sich aus schierer Not in ein immer aberwitzigeres Lügennetzwerk verstrickt. Doch dann taucht der Neubauer auf… Lustvoll böse und unglaublich komisch. – Hier eine Leseprobe aus „Der Neubauer“.
VON CORDULA SIMON
Vom Neubauer habe ich zum ersten Mal gehört, kurz nachdem ich rausgeworfen wurde. »Junger Mann«, hatte es zuvor neben mir gesagt, während ich mich hinter dem Pappständer versteckte. Die Frau sprach mit mir.
Marlies zog gemächlich ein Produkt nach dem anderen über den Scanner. Sie wippte mit dem Fuß. Man hatte Zeit, auf Marlies zu warten, Marlies war freundlich.
Neben mir aber stand eine alte Frau im braunen Mantel, die sich an ihr kleines Beutelchen von einem Portemonnaie klammerte, und fragte nach der Gelatine. Ich hatte gerade Backpulver und Vanillezucker ins Regal geräumt. Sie verschwand beinahe im Kragen ihres braunen Filzmantels und fragte schon zum dritten Mal nach den Dörrzwetschken, obwohl sie direkt vor dem Pappregal stand, auf dem die Dörrzwetschken zu finden waren. Die alten Frauen fragen immer nach allem, damit sich jemand mit ihnen unterhält. Beim Einräumen hatte ich mich noch gefragt, wer so viele Dörrzwetschken benötigt. Aber alte Frauen brauchen Dörrzwetschken, sobald die weihnachtliche Saison beginnt, und sie stehen direkt davor und sie fragen. Vor lauter traurig und allein fragen sie. Mit dem einzigen Zweck, sich zu unterhalten.
Ich war müde, ich war am Vorabend mit Wiesner unterwegs gewesen. Ich wünschte, die Frau würde zur Kassa gehen und sich mit Marlies unterhalten. Marlies machte das gerne. Marlies lächelte für alle. Dann spielte sie wieder unsicher mit ihren Piercings. Ich rieb mir die Augen.
Da sah ich jemanden durch die Tür kommen, der mir bekannt vorkam. Hinter dem Mann eine Frau, die mir auch nicht völlig fremd schien, mit einem schreienden Kind an der Hand. Gestern! Ich duckte mich hinter den Pappständer. Sie waren gestern dabei gewesen! Nicht das Kind, nur die beiden. Sie durften nicht an mir vorbeigehen. Sie durften mich nicht sehen. Wiesner würde es sonst erfahren. Sie würden es Wiesner sicher erzählen. Ich schlich um den Pappständer herum, während sie durch die Gemüseabteilung gingen, die alte Frau im braunen Mantel rutschte mit ihren ebenso braunen Schuhen hinter mir her: »Junger Mann, wo finde ich die Gelatine?« Ich griff nach vorne und reichte ihr eine Packung, kam hinter dem Pappständer aber nicht hervor, das Risiko, gesehen zu werden, war zu groß.
Die alte Dame bedankte sich, da hörte ich ein Klirren: Ich senkte den Kopf – bitte nicht! Aber doch: Ich wurde zur Kassa gerufen. Ich rührte mich nicht. Waren es Bekannte von Wiesner? Bekannte der Tarán? Wir hatten viel getrunken gestern und sie waren mir irrelevant erschienen. Die meisten Leute haben gar kein Gesicht und die meisten Leute sind irrelevant. Sie standen noch an der Kasse. Ich klammerte mich an den Pappständer. Noch einmal wurde ich zur Kasse gerufen. Ich tat keinen Atemzug. Da klingelte mein Telefon. Marlies würde meinen Klingelton erkennen. Ich bemühte mich, es lautlos zu stellen. Ich hätte es im Spind lassen sollen. Das war Wiesner. Wiesner rief immer zum unpassendsten Zeitpunkt an. Ich hörte von der Kasse her noch: »Du hast die Rechnung falsch gefaltet«, dann verließ die Familie den Supermarkt. Dieses Klingeln war es, das das Fass zum Überlaufen brachte, das war der Kündigungsgrund. Morgen würde ich nicht mehr kommen müssen.
Ich wankte am Abend mit einer Tasche voller Bier durch die automatische Tür. An sich durfte man Abgelaufenes nur im Supermarkt konsumieren, aber Marlies sagte: Scheiß drauf. Marlies, die gute Seele. Was sollen sie schon tun?, hat sie gesagt, dich noch einmal rauswerfen? Dann hat sie gelächelt. Da waren schon zu viele Verwarnungen gewesen, weil ich während der Arbeit telefoniert hatte. Schockstarre war keine Ausrede, wir sind hier ja nicht an der Uni. Hier bekommt man einen Rauswurf statt eines Therapiehundes und Play-Doh.
Für dieses Mal war es vorbei. Ich hatte mich finanziell verausgabt. Wie immer, denn nur der richtige Eindruck zählt. Der Mietrückstand war zu groß und ohne den Job im Supermarkt gab es keine Möglichkeit mehr, die Zahlung hinauszuzögern. Übermorgen war der Monatserste. Morgen würde ich also beginnen zu packen. Das Kommende mochte unangenehm sein, aber ich hatte in meinem Leben schon Schlimmeres ertragen. Schlimmeres als Wiesner. Ich setzte mich auf das metallisch knirschende Bett und öffnete eine Dose.
Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages