Rebellion im Modus der Phantasie
BUCHBESPRECHUNG / REICHART / DIE VOEST-KINDER
18/10/11 Gesellschaftliche Sprechtabus und märchenhafte Gegenwelten mit einem Schuss phantasierter Exotik – Elisabeth Reicharts neuer Roman „Die Voest-Kinder“ bietet eine ebenso leichtfüßige wie genaue Nachkriegsmilieustudie.
Von Harald Gschwandtner
„Ich liebe deine Fantasie“, schreibt die Großmutter ihrer Enkelin. Phantasie, ja die hat das Kind oft mehr als nötig – als exit strategy gewissermaßen: Das Mädchen, von dem Reicharts in diesem Herbst im Otto Müller Verlag erschienener Roman berichtet, wird in den 50er Jahren in eine Welt hineingeboren, die von Tabus und verdrängter Geschichte geprägt ist. In den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen lernt sie Sprechweisen kennen, die sie verwirren und ängstigen. So weint die Großmutter, wenn vom „Tausendjährigen Reich“ die Rede ist, andere verstummen.
Im gleichförmigen Alltag einer Nachkriegsarbeiterfamilie sucht das Mädchen nach alternativen Wegen, mit ihrer Umgebung fertig zu werden. Denn obschon man ihr vor dem Umzug der Familie in eine Siedlung der Voest, in der der Vater arbeitet, erklärt, das neue Haus bedeute „eine glückliche Zukunft“, muss das Kind bald das Gegenteil erkennen: „Niemand war glücklich in dem neuen Haus, das geheimnislos in der Ödnis neben anderen, ebenso geheimnislosen Häusern stand.“ Die neue Umgebung sperrt sich gegen die Verwandlung in eine phantastische Gegenwelt: Der Ruß, der sich auf die im Garten zum Trocknen aufgehängte Wäsche legt, ist nun kein „Versprechen“ mehr, dass ihr Vater am Hochofen „über das Feuer herrschte“.
Das von den Eltern geplante kollektive und dauerhafte Glück muss scheitern, weil lediglich materielle Voraussetzungen dafür geschaffen werden – indem man in ein Reihenhaus mit eigener Waschküche zieht –, die individuelle Zufriedenheit damit jedoch nicht Schritt halten kann. Glück stellt sich hier nur noch in ephemeren Augenblicken ein, in Momenten der Sehnsucht und kurzzeitigen Freiheit. Dieses Leben, in dem es „normal ist, keine Fragen zu stellen“, prägen unterdrückte und verdrängte Wünsche, die sich schließlich immer wieder in Entfremdung und Sprachlosigkeit niederschlagen.
Die Märchenwelten werden brüchig, Rebellion folgt auf Rebellion, unterbrochen von kindlichem Trotz und Resignation. Dabei zeigt sich das Mädchen, aus der Perspektive der Erwachsenen stets ein ‚schwieriges Kind‘, immer offen für das Unbekannte, etwa für die hanebüchenen Geschichten ihrer schon älteren Freundin. Sie wird deshalb gar aus Angst vor der Regelblutung zur Vegetarierin. Phantasie und Realität verschwimmen im Durcheinander der Geschichten, in der Unsicherheit zwischen überwunden geglaubter Kindlichkeit und sich erst in der Ferne abzeichnender Pubertät.
Ob intendiert oder nicht: Das Projekt des Mädchens - in der Ausgangssituation, die Reichart in ihrem manchmal etwas langatmigen Roman entwirft - ist es, im Modus der Phantasie gegen die Sprachschablonen und Begriffsklaubereien der Erwachsenen zu revoltieren.
Es sind dies etwa Distinktionen und Zuschreibungen, die für das Kind in seiner Realität keine Rolle spielen und die doch immer wieder drohend und unbestimmt über den Gesprächen der ‚Großen‘ hängen. Ihr wird der Kopf „wirr“, wenn von ‚Juden‘ und ‚Zigeunern‘, von ‚Führer‘ und ‚Reich‘ die Rede ist. Immer wieder versucht das Mädchen, jenes Sprechen, das für sie „keine Klangworte mehr“ bereithält, umzudeuten und umzuschreiben in eine „Sprache voll von Zauberworten, die nicht den Schrecken, sondern das Glück beherbergten“.
Dem projektierten und sowohl an der Abwesenheit des Vaters als auch an der Xenophobie in der Siedlung scheiternden Glück der Familie wird so die Vorstellung eines selbstbestimmten und von gesellschaftlichen Rollenerwartungen freien Lebens gegenübergestellt.
Reicharts Roman, der seiner Protagonistin für ein Kind mitunter sehr weitreichende psychologische Einsichten gewährt, ist eine so verspielte wie ernsthafte Sozialstudie aus dem oberösterreichischen Arbeitermilieu der Nachkriegszeit. Sehnsüchte nach einem anderen Leben stehen hart neben unbewältigten Vergangenheiten. Neugierde für Exotismen neben tradierten halbfesten Ängsten vor dem Fremden und Unbekannten, und sei es nur die Phantasie eines Kindes.