Ein neues Spiel vom Fragen
BUCHBESPRECHUNG / HANDKE / DIE GESCHICHTE DES DRAGOLJUB MILANOVIC
14/10/11 „Es ist eine Geschichte zu erzählen.“ So beginnt Peter Handkes schmaler neuer Band „Die Geschichte des Dragoljub Milanovi?“: ein weiterer eindrucksvoller Versuch, „über die Aktualitäten hinaus“ dichterisch-subjektive Blicke auf das ehemalige Jugoslawien zu richten.
Von Harald Gschwandtner
„Auch im Literaturbetrieb ist ein Eklat manchmal ganz einfach. Man braucht dazu nur einen Preis, eine Jury und Peter Handke“, schrieb David Hugendick unlängst in der „Zeit“. Kurz zuvor hatte der Sponsor des Candide-Literaturpreises seine Zustimmung zur Entscheidung der Jury, Handke die Auszeichnung zuzusprechen, verweigert. Man fürchtete bei einer Verleihung des Preises an den umstrittenen Autor Imageschäden. Erinnerungen an die Kontroversen um die Vergabe des Düsseldorfer Heine-Preises steigen auf – und nicht zuletzt an die feuilletonistischen Nachbeben.
Gerade in dieser emotional geladenen Stimmung bietet es sich an, abseits kulturpolitischer und pseudomoralischer Polemiken Handkes Texte zu lesen. Etwa jenen, der jüngst im Salzburger Jung und Jung Verlag erschienen ist: „Die Geschichte des Dragoljub Milanovi?“.
Handke erzählt vom ehemaligen Direktor des serbischen Fernsehens, der nach einem NATO-Bombenangriff auf den Sender im Zuge des Balkan-Kriegs im April 1999 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, weil er seine Mitarbeiter trotz Warnungen nicht evakuiert hatte. Oder wie er selbst sagt: Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass „in unserem Land absichtlich ein ziviles Ziel bombardiert würde“.
Wie in seinen großen Reiseberichten aus den 90er Jahren fragt Handke nach den Ursprüngen medial verbreiteter Zuschreibungen und Feindbilder, nach der Stichhaltigkeit öffentlicher Sprachregelungen. Immer wieder bemüht er dabei implizit jene Opposition von „Erzähler“ und „Sprecher“, die er schon in „Abschied des Träumers vom Neunten Land“ aufgestellt hatte – und schlägt sich so nach- wie eindrücklich auf die Seite des ersten. Dass er dabei eben auch mit der Rolle eines Erzählers, der im Gefolge von Meister Eckhart „notfalls einem Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus“ berichten muss, kokettiert, gehört zu den großen selbstreflexiven Qualitäten von Handkes Werk.
Der Autor ist in „Die Geschichte des Dragoljub Milanovi?“ in der exemplarischen Position des Fragenstellers, der – entgegen vereinfachender politischer Lektüren – eben keinen der angebotenen Standpunkte, seien sie ‚proserbisch‘ oder ‚prowestlich‘, unkritisch übernimmt, sondern dem zuallererst alles fragwürdig ist.
Beständig denkt er darüber nach, wie das Schicksal dieses Mannes im Kontext der balkanischen Zeitgeschichte abseits ausgetretener Berichtspfade zu erzählen ist. Und wie so oft nähert sich Handke dieser Frage über die Beschreibung des mimischen und gestischen Verhaltens der Menschen, über die Hexis, den „Habitus“.
„Das Unerträgliche in Film und Tanz“ beginne „dort, wo Zorn Augenrollen wird, Tugend Schönheit und die ganze Seele eine Steinallee bekannter Allegorien“, schreibt Robert Musil 1925. Handke ist es nun scheinbar gerade darum zu tun, festgefügte, konventionalisierte Zusammenhänge des Mimischen und Gestischen mit Gefühlen, Emotionen und Charaktereigenschaften aufzubrechen. So kann er bei seinen Gefängnisbesuchen in den Inhaftierten lediglich etwas erkennen, „das jenseits von Schuld und Unschuld war“.
Oder bei Dragoljub Milanovi? „ein leichtes Kopfwegdrehen, oder eher -wegbiegen, vergleichbar ‚unserem‘ Augenverdrehen, auch Schulterzucken, und doch wieder ganz und gar nicht – denn es bedeutet, über unser Abfälligwerden oder sonst was hinaus, auch noch, so scheint es mir jedenfalls wieder, ein: ‚Das da, und das da, es sollte nicht sein. Es ist lächerlich. Es ist stockdumm. Es ist ein Skandal. – Aber so ist es halt. Was soll man sagen? Was kann man tun? Alles sinnlos …‘“
Es sind dies so feinsinnige wie subjektive Einschätzungen, die niemals einen Absolutheitsanspruch stellen, die nie den selbstsicheren Berichtston der „Sprecher“ übernehmen. Wenn dem Besucher das Gesicht des Verurteilten bei dem Wort „Verachtung“ „womöglich noch kindlicher und stiller“ erscheint, weil er darin „eine Verachtung“ erblickt, „die seine Züge, statt sie zu verzerren, erweiterte“, zeigt sich darin nicht zuletzt ein Schauen, das sich von den ‚formelhaften Verkürzungen des Verstandes‘ (Musil) beständig abzusetzen versucht.
Dass er Gegenerzählungen anbietet, die vom Schauen und vom Forschen eines einzelnen aufmerksamen Individuums ausgehen und nicht von medial transportierten Kollektivwahrnehmungen, werden ihm manche freilich nie verzeihen. Aus der isolierten Lektüre von Halbsätzen und Handkes oft ungeschickten öffentlichen Auftritten lässt sich zweifellos ein stimmiges Autorenfeindbild basteln. Gegen den Umstand, dass Handkes poetische Texte zum ehemaligen Jugoslawien zum Lesenswertesten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehören, werden sie trotzdem nicht ankommen.