Arznei gegen das Zugrunde gehen
BUCHBESPRECHUNG / CHRISTOPH RANSMAYR
21/06/24 Christoph Ransmayr, heuer Siebzig geworden, feiert das Erzählen zwischen Buchstabensuppe und der Göttin für alle, die den Untergang zu fürchten haben. „Denn was ist, ist niemals alles.“
Von Heidemarie Klabacher
„Ich habe durch die Bullaugen des Nukleareisbrechers Yamal ähnlich dichte, polare Dunstbänke über dem Horinzont im Ferngals betrachtet und war so überzeugt, eine gebirgige Küste vor mir zu haben, daß ich darüber eine Wette gegen einen Maschinisten aus Murmansk verlor...“ Da erzählt also der Erzähler in einer kleinen Geschichte – Floßfahrt ist die Nummer 6 von insgesamt 13, aus Respekt vor dem Schicksal aber bis 12a durchgezählten Erzählungen – auf gezählten sieben Seiten von der legendären Expedition ins ewige Eis, von der er in einem großen Roman längst berichtet hat. Dabei verschränkt der Dichter-Berichterstatter-Chronist seine eigene reale Reise ins Polareis mit seinen imaginären Fahrten auf den historischen Karten im Kartensaal der Nationalbibliothek. Durchmisst in weit ausholenden, an elegante Küstenlinien erinnernden Sätzen noch einmal die Schrecken des Eises und der Finsternis. Bringt mit leichter Hand den Titel eines jüngeren Kollegen und damit die Kolonialgeschichte eines weiteren Kontinents ins Spiel, wenn er der Vermessung der Welt, der Entdeckung des Franz-Joseph-Landes und der Tilgung eines weiteren weißen Fleckens von Globen und Landkarten mit Nachdenklichkeit gedenkt. Der weitgereiste Dichter scheint seinen stillen Platz im Lesesaal nie verlassen zu haben. Ist zugleich ortsfest „im Geflüster von Lesenachbarn, die an ihren Tischen in durch Kriege oder Progrome außer Kraft gesetzten Urkunden und längst überholten Regionalkarten nach einer verlorenen Heimat, Wasserrechten oder vergessenen Ortsnamen suchten“ und auf seinem Floß „viel weiter gedriftet, über geographische Grenzen hinaus, bis an das wahre Ende der Welt“. Vielleicht, so mutmaßt der Dichter, hat der von einem Schlaganfall gelähmte und im Weltkriegsjahr 1915 verstorbene Expeditionsleiter Julius Peyer in den letzten Tagen seines Lebens noch erkannt, „daß, was er im menschenleeren Frieden der Hocharktis kartografiert hatte, doch – ein Paradies war“.
Zum Staunen und zum Niederknien schlicht kommt dagegen die erste, dem Buch seinen Titel gebende Erzählung Als ich noch unsterblich war daher. Das ist die mit der Buchstabensuppe, dem Lesen- und Schreibenlernen der Muttersprache am „Porzellanstrand“ des Suppentellers – eines der schönsten Denkmäler, das je einer Mutter gesetzt wurde. „Meine Mutter beließ mir lange Zeit jede Freiheit, das schwimmende, eßbare Alphabet als Symbolsammlung für alles zu nehmen, was mir gerade durch den Kopf huschte...“ Im Wort Meer könne man nicht ertrinken, lernte der Knabe, in das Wort Abgrund nicht fallen. Freilich können Worte – wie Luzifer – ihre Bedeutung ändern. „Aber meine Mutter sagte: Es liegt an dir. Du hast mit einem Löffel voll Buchstaben dein Leben, die Welt in der Hand.“ Das Diktum vom „Blick über den Tellerrand“ bekommt in der Lesart Ransmayer welt-literarische Dimension: „Ein einziges zu Buchstaben aus Teig oder Tinte geronnenes Wort vermochte die geheimsten Gedanken seines Schreibers nicht bloß über Suppenteller und Küchentische hinweg, über Gebirge, Meere und Kontinente tragen, sonden ihn über die Zeit erheben und noch lesbar bleiben, wenn er selber bereits seit Jahren oder Jahrhunderten verstummt war.“
Immer wieder werden die in dem Band versammelten – an unterschiedlichsten Orten erstmals publizierten Texte – zu Geschichten vom Erzählen als menschlichem Grundbedürfnis. Dass die Wiege der darstellenden Kunst in Irland genau so berechtigt verortet werden kann, wie im alten Griechenland, legt der wunderbare Text Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer nahe. Wer dabei war, erinnert sich: Das war Christoph Ransmayrs Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1997. Exotischer ist der Kontext etwa in Die Verbeugung des Riesen. Nicht nur in der Mitte des Buches sondern sein Herzstück ist Arznei gegen die Sterblichkeit: Mit der Selbstverständlichkeit und Objektivität des Antrophologen, der dabei gewesen ist, erzählt Ransmayr vom ersten Erzähler der Menschheit, jenem – vermutlich – älteren Mann, der, auf der Antilopenjagd verunglückt, dennoch von seinem Stamm nicht zum Sterben zurück gelassen wurde, und der zu erzählen begann: „Wer vom Narbenmann ins Reich der Vorstellung geführt wurde, der durfte von Generation zu Generation in die Vergangenheit und in die Zukunft wandern und in einem Nest, in dem ansonsten nur in Baumharz eingeschlossen Insekten, Steine oder zu Stein gewordenen Schnecken überdauerten, gewiß nicht für immer bleiben, aber zumindest länger als jedes atmende Wesen.“ Dass dieser „Narbenmann“ in seinem Fellschurz in einer federleichten Wendung ins Absurde plötzlich in einem barocken Rathaus zum Gegenstand einer Dichter-Ehrung wird, dünkt selbstverständlich.
Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 220 Seiten, 25,50 Euro