Vom Schneckenhaus in die Galaxie
BUCHBESPRECHUNG / ELENA WINTER / IM ORBIT
23/08/24 „Und was habe ich“ Die Protagonistin sitzt wieder mal im Warteraum ihres Arztes und erwartet eine schreckliche Diagnose. „Das ganze Programm vermutlich. Den Vollwaschgang, inklusive Spülen, Schleudern, Abpumpen. Aufhängen kann ich mich gleich selbst.“ Mit Humor und Gespür für moderne Absurditäten erzählt Elena Winter in ihrem Debütroman Im Orbit von einer jungen Frau, die mit sich selbst und ihrer Umwelt nicht klarkommt.
Von Christina König
Von plantarer Fasziitis über Nasenbluten und Schlafwandeln bis hin zu zerreißenden Bauchschmerzen und Lagerungsschwindel – die 23-jährige Leonie hat schon alles gehabt. Ihren Körper sieht sie als Gefahrenquelle, mit der sie vorsichtig umgehen muss. Oft sitzt sie bis spätnachts an ihrem Laptop und diskutiert mit Usern namens peterpain oder Parapsycho53 über ihre Symptome. Mit Rasayanas-Kapseln, Faszientraining oder EKGs will sie ihnen auf die Schliche kommen. Komisch nur, dass alle ihre Untersuchungen ergeben, dass sie kerngesund ist …
Elena Winter hat für ihren Debütroman eine Protagonistin geschaffen, die sich abgeschnitten hat von der Umwelt und auch von einer gesunden Beziehung zu sich selbst. Ihre Leere füllt Leonie mit Sorgen um ihre Gesundheit, fühlt sich am wohlsten zuhause. „Mein Zimmer ist eine Weltraumkapsel, die unterwegs durchs All von blauen Nebelbahnen gestreift wird. Ich frage mich, ob ich hier im Orbit sicher bin, außerhalb von Raum und Zeit. Sicher vor was überhaupt?“
Andere wichtige Bezugspersonen fehlen in ihrem Leben. Ihre Mutter, eine spritzige Junggebliebene, missbraucht Leonie vor allem als Kummerkasten, wenn ihre Online-Dates ihr mitteilen, auf ihrem Profilbild habe sie „unverbrauchter“ ausgesehen. Einen Vater gibt es nicht, und gerade deswegen sieht Leonie ihn überall: zum Beispiel in dem Mann, der ihr manchmal im Bus gegenübersitzt und von dem sie sich vorstellt, er verbringt seine Tage am Museumsplatz damit, auf der Trompete Somewhere Over the Rainbow zu spielen. Und dann ist da noch ihr Chef Jochen, der sie zweideutig anlächelt und ihr auf ihre Nachricht, sie könne nicht zum Sommerfest der Firma kommen, schreibt, das sei ohnehin besser: „Er sei zwar mein Chef, aber eben auch ein Mann, hat er geschrieben und verschiedene Emojis angehängt.“ Von dem Kollegen Torsten ohne h weiß Leonie nicht viel mehr als wie er aussieht, wenn er sich konzentriert.
Der Roman ist in der ersten Person Präsens geschrieben und rückt die Leserinnen und Leser ganz nah an Leonies Weltraumkapsel, die nichts anderes ist als ein Schneckenhaus, in das sie sich verkriecht, in dem ihr eigener Körper so groß wird, weil ihre Welt so klein ist. Sehr einfühlsam, mit einer ordentlichen Prise Galgenhumor und naseweis eingestreuten medizinischen Fachbegriffen würzt Winter ihre Geschichte, die mit ihrer klaren, unkomplizierten, authentischen Sprache perfekt zur Welt einer jungen Frau der Gen Z passt. Denn auch das gelingt Winter bestens – zu zeigen, wie einfach es in einer Welt, in der alle dauernd vernetzt sind, ist, einsam zurückzubleiben.
Aber allmählich und sehr behutsam führt Winter ihre Protagonistin hinaus in die Galaxie. Da gibt es eine Szene, in der Leonie Blickkontakt mit ihrem Nachbarn aufnimmt und sie sich zuprosten. Da gibt es den Moment, als Leonie und ihre klaustrophobe Kollegin im Lift steckenbleiben und Leonie sie mit Fragen zu ihren Windhunden ablenkt. Ein besonders berührendes Kapitel ist Winter gelungen, als eine Obdachlose sich in Leonies Stiegenhaus schlafen legt und Leonie ihr ungelenk und unsicher einen Polster hinwirft.
Winter beschreibt die Annäherung einer herzergreifend scheuen Person an ihre Außenwelt so bedachtsam, mit so viel Gespür für psychologische Unsicherheiten, dass man gar nicht anders kann, als Leonie liebzugewinnen. Ganz gelingt ihre Öffnung vielleicht nicht – den selbst gemachten Zwiebackbrei mit Banane, den sie der Obdachlosen ins Stiegenhaus stellt, wirft sie nach ein paar Stunden wieder weg – aber der Weg ist der richtige. Ganz langsam ändern sich auch ihre körperlichen Symptome, werden von der Gefahr zum Schutz: Übelkeit überkommt Leonie genau in dem Moment, in dem sich ihr Chef ihr nähert, sie übergibt sich auf seinen Anzug – und die Distanz bleibt gewahrt. Und dann kommen auch noch neue Symptome dazu, die Leonie nicht einordnen kann und die immer in Gegenwart von Torsten ohne h auftreten …
Ein großer Pluspunkt des Romans ist, dass nicht ein großer, weltbewegender Moment für Leonies Veränderung verantwortlich ist. Es gibt keinen Knall, keine Erkenntnis, keine guten Vorsätze. Alles, was zu sehen ist, ist das gemächliche Gleiten einer Schnecke, die sich aus ihrem Haus schiebt – vielleicht sogar unbemerkt von ihrer Umwelt. Dieses Gleiten hat Winter wunderbar eingefangen. Wir begleiten Leonie gern dabei.