Vom Waisenkind zum Kleinstaatsfeind
RAURISER LITERATURTAGE / BUCHBESPRECHUNG / QUADERER
07/04/21 Die Rauriser Literaturtage werden heute Mittwoch (7.4.) eröffnet. Nach der Absage im Vorjahr ist es der zweite Anlauf, den „Fünfziger“ zu feiern. Zur Eröffnung lesen im Live-Stream Angela Lehner, Rauriser Literaturpreisträgerin 2020, aus ihrem Roman Vater unser und Benjamin Quaderer, Rauriser Literaturpreisträger 2021, aus seinem Roman Für immer die Alpen.
Von Sandra Eder
Ein zeitgenössischer Till Eulenspiegel: Der Roman Für immer die Alpen gewährt Einblick in das Leben eines Hochstaplers. Mit dem Protagonisten Johann Kaiser erschafft Benjamin Quaderer eine Figur, die mit ihrer manipulativen Art und ihrer tragischen Lebensgeschichte genauso viel Misstrauen wie Mitleid erregt.
Nicht nur der Umfang, sondern auch der Stoff macht den Roman des diesjährigen Preisträgers zu einer etwas schweren Kost: Auf knapp sechshundert Seiten bietet Benjamin Quaderer die Geschichte eines Bankdatendiebs. Johann Kaiser muss unter schwierigen Verhältnissen aufwachsen: Von den Eltern ins Waisenhaus gesteckt, von den Schwestern seit jeher verachtet, entwickelt der Protagonist auf sich allein gestellt die eine oder andere hinterlistige (Über-)Lebensstrategie. Zwischen schmutzigen Geschäften, Erpressung und Suizidversuchen mogelt sich der Antiheld durch sein konfliktgeladenes Leben. Und versucht nebenbei seine Mutter zu finden. Er ist jemand, der aneckt. Gegenspielern begegnet Johann Kaiser auf seiner Odyssee vielen, doch zum Haupt-Antagonisten wird ausgerechnet sein Heimatland Liechtenstein. Der Fürst persönlich hat es auf ihn abgesehen, denn Johann Kaiser hat das Bankwesen geschädigt – und damit auch den Staat. Das macht ihn zum „Nestbeschmutzer“ Liechtensteins, zum Kleinstaatsfeind Nummer 1.
Der Protagonist hat einen starken Bezug zu seinem Heimatland, das Verhältnis ist jedoch ambivalent. Das Bankwesen, die Beziehung zwischen Volk und Fürst und die geographische Enge des Kleinstaats werden kritisch beleuchtet. Doch ist es ausgerechnet die liechtensteinische Fürstin Gina, die für Johann Kaiser als Ersatzmutter dient. Die Zwiespältigkeit gegenüber dem Staatswesen manifestiert sich in entsprechenden Aussagen: „Ich ließ den Kleinstaat hinter mir liegen wie ein Kleidungsstück, das einem einmal das liebste gewesen war, bis man feststellen musste, dass es zu eng geworden war. Viel zu eng.“ Zwischen Heimatverbundenheit und Fernweh wird Kaiser schließlich zum Weltenbummler. Nie bleibt er an einem Ort. Als Sinnbild des Heimatbezugs dienen die Alpen. Diese sind nicht nur im Titel enthalten und auf dem Buchcover abgebildet, sondern kommen auch in der Handlung immer wieder vor und tragen ebenso eine Doppeldeutigkeit wie der damit verbundene Staat.
Ambivalenz ist in diesem Roman nicht nur in Bezug auf Liechtenstein, sondern auf mehreren Ebenen zu finden. Interessant ist vor allem der spielerische Umgang mit Fakt und Fiktion – zumal der Stoff für die Handlung selbst auf einem realen Fall basiert. Laufend werden Daten oder Informationen genannt – seien es Namen oder geschichtliche Fakten – die die Leserschaft zum Recherchieren anregen. Schnell stellt man fest: Vieles ist wahr, manches nicht. Im Handlungsverlauf fällt zudem auf, dass der Erzähler der Leserschaft einige Dinge verschweigt. Nicht zuletzt kann der gezielte Wechsel zwischen epischen Ausschweifungen und zeitraffendem Erzählen da und dort irritieren. Heftige Handlungsbrüche und schnelle Ortswechsel fordern zu erhöhter Aufmerksamkeit heraus.
Es stellt sich bei der Lektüre laufend die Frage: Inwieweit kann man dem Geschriebenen des Ich-Erzählers Glauben schenken? Schließlich haben wir es mit einem Hochstapler als Hauptfigur zu tun, und mit einem Text der in der Tradition des Schelmenroman steht. Der „Schelm“ besitzt Narrenfreiheit. Er darf also alles sagen. Zudem lebt er davon, andere hinters Licht zu führen und bleibt dadurch selten an einem Ort. Diese Merkmale treffen auf Johann Kaiser zu. Dementsprechend ist bei der Lektüre Vorsicht geboten: Man weiß nie, ob der Schelm einen gerade hinters Licht führt.
Man hat es also mit einem Text zu tun, der dazu anregt, aktiv zu handeln und kritisch zu denken. Damit trifft er genau den Nerv einer Zeit, in der Interaktion mit Medien gefragt ist. Es reicht nicht mehr, ein Kunstmedium nur zu „konsumieren“, man will mit ihm (inter-)agieren. Tatsächlich animieren die Daten/Namen/Fakten die der (nicht vertrauenswürdige) Erzähler laufend im Text nennt, zum Nach-Recherchieren. Man liest den Text (im Optimalfall) also nicht einfach, sondern leistet zusätzlich eigene Recherchearbeit; zumindest wenn man herausfinden will, was Tatsache und was Fiktion ist. Das Buch will zum Handeln und zur Kritik auffordern. Und dies schafft Benjamin Quaderer mit seinem Roman Für immer die Alpen. Derartige Lichtblicke im Bereich Kunst und Kultur sind gerade in Zeiten der Pandemie von großer Bedeutung. Es ist wirklich ein raffiniertes Buch und es lohnt sich, dieses zu lesen.
Bild: Luchterhand Verlag / Jens Oellermann
Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Roman. Luchterhand Verlag, 2020. 592 Seiten, 22,70 Euro – www.penguinrandomhouse.de/Luchterhand-Literaturverlag
Für DrehPunktKultur berichten Studentinnen und Studenten von Marlen Mairhofer und Clemens Peck im Rahmen der Lehrveranstaltung „Literaturbetrieb und literarisches Leben in Österreich (Rauriser Literaturtage 2021)“ am Fachbereich Germanistik von den im Live-Stream stattfindenden Rauriser Literaturtagen 2021.
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