Unter verbranntem Boden
BUCHBESPRECHUNG / STEINWENDTNER
16/03/21 An der deutsch-böhmischen Grenze, im Mikrokosmos der Familie Czermak, hinterlassen die ideologischen Gräben der zerbröckelnden Habsburgermonarchie und der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts ihre Spuren. Brita Steinwendtners Roman Gesicht im blinden Spiegel mag um das Sterben herum gebaut sein, hält aber am Menschen und am unverfänglichen Augenblick fest.
Von Katharina Bruckschwaiger
Als Jugendlicher lässt sich Johannes mitreißen vom Kriegstaumel. Auf dem Schlachtfeld von Chlum sind seine Freunde Bohumil und Ferdinand und sein halbes Gesicht liegen geblieben. „Du, ja du, sollst gerettet werden.“ Die Worte des mythisch aufgeladenen Johanniterritters, der „ohne Zeit und ohne Begriff“ ist, gelten Johannes, den er unter den Toten birgt. Der Retter in Ordenstracht ist kaum greifbar, doch seine Vorausdeutungen (ähnlich denen eines allwissenden Erzählers) offenbaren die brutale Willkür des Gemetzels.
Mit enormer stilistischer Bandbreite, metaphernreich und symbolhaltig folgt Brita Steinwendtner ihrem Protagonisten durch ein Historien-Panorama, das sich scheinbar von selbst freilegt. Von der intensiven Recherchearbeit, die die Arbeit an diesem Roman begleitet haben muss, ist nichts zu spüren. Das liegt auch an der Erzählhaltung, die tendenziell nah an der Figur angesiedelt ist und mit ihr gemeinsam über die größeren und kleineren Namen der Realhistorie stolpert.
Johannes Czermak gelingt die Rückkehr zu den Menschen vor allem über Kunst, Literatur und Wissenschaft. Er liest Heine, Stifter, Tolstoi und Trakl, aber auch die Arbeiten Christian Dopplers und Newtons. Von Karl Kraus ist er sofort eingenommen, als dieser Johnann Strauß Sohns Operette Der lustige Krieg auseinandernimmt. Bertha von Suttners Die Waffen nieder! beeindruckt ihn nachhaltig.
In der Bibliothek von Braunau trifft er auf Clara Immerwahr, jene Chemikerin, die als erste deutsche Frau an einer Universität promovieren sollte. Aus der Ferne muss der geschulte Handwerker mitverfolgen, wie die von ihm bewunderte Freundin trotz Achtungserfolg an den gesellschaftlichen Restriktionen scheitert. Eine wissenschaftliche Karriere bleibt ihr zeitlebens verwehrt. Ihr Mann Fritz Haber wird im nahenden Weltkrieg den ersten Einsatz von Giftgas in die Wege leiten.
Mit feiner Feder platziert Brita Steinwendtner ihre Figuren in eine neu aufkommende Gesellschaftsordnung. Dabei zeigt sich: Lebens- und Geschichtsverlauf, Sehnsüchte und Politik, Erleben und Geschichtsschreibung vertragen sich nicht immer so gut, wie man sich das wünschen würde. Johannes, mit seinem verstümmelten Gesicht, muss sich sein Leben, seine Alltäglichkeit erst erarbeiten. Dem Bild des mähenden Todes setzt er sein eigenes Bild des mähenden Bauern entgegen (er entdeckt es bei einer Zugfahrt). Dieses Mähen ist keine blutige Kahlrasur, sondern „ein Fallen für ein neues Wachsen“.
Im fortgeschrittenen Alter erhält er unverhofft neue, künstliche Wangenknochen die ihn vollständig genesen lassen sollen. Nicht zuletzt wegen der Liebe entscheidet er, die Prothese wieder abzunehmen. In Venedig fidelt er sich als „Hasardeur des Augenblicks“ in eine „lindgrüne Ewigkeit“ und lebt, um seinen Freund Lukas Jančar zu paraphrasieren, sein bestmögliches Leben, doch die Vergangenheit bleibt und die Zukunft lauert.
Man könnte noch viele Worte verlieren über diesen wunderschönen Text. Besser ist es aber, man liest ihn und fängt, wenn man damit fertig ist, gleich noch einmal von vorne an.