Festhalten was vorbeigeht
BUCHBESPRECHUNG / KARL-MARKUS GAUSS
20/11/20 Als forschender Kundschafter hat sich Karl Markus Gauß einen Namen gemacht. Als jemand, der das Entlegene genauso schätzt wie das große Geschehen. Glücklicherweise hält die Literatur ihre eigenen Gedächtnisspeicher parat. Der Autor lädt daher erneut zum Rundgang durch europäische Kulturlandschaften und die eigene Biografie.
Von Katharina Bruckschwaiger
Betrachtet man die Welt als Bibliothek, bewegt sich langsam forschend, also lesend, durch die Straßen, dann dürfte man nah dran sein an der Art der literarischen Fortbewegung, wie sie der Salzburger Schriftsteller praktiziert. Hier schreibt jemand, der klären und erklären möchte. Seine Beobachtungen verfasst Gauß mit der Brille des Kulturwissenschaftlers.
Beständig werden aus vermeintlichen Nebensächlichkeiten weitschweifende Gedankengänge gebastelt. Gauß sucht nach Anknüpfungspunkten in der europäischen und österreichischen Vergangenheit. In seinen Bilanzen gibt er den kenntnisreichen Analytiker. Manchmal möchte er auch „nur“ eine gute Geschichte erzählen. Zum Beispiel die von Isuf, dem albanischen Sommelier, der zwar keinen Alkohol trinkt, aber mit geschulter Nase ermittelt, ob der Wein etwas taugt.
Die Wirtschaftswissenschaften sprechen bekanntlich von Trade-Offs, wenn ein erstrebenswertes Anliegen mit dem anderen kollidiert. In der unaufhörlichen Wanderung halten sich der Erzähler, der Berichterstatter und der kritische Philosoph – wie man es von Gauß gewohnt ist – die Waage.
Ab und an kommen sie einander aber doch in die Quere. Das gilt insbesondere dann, wenn Gauß allzu stark mit dem rhetorischen Zauberpinsel arbeitet.So passiert es etwa, dass Teenage-Subkulturen, namentlich Emo-Kids aus den späteren Nullerjahren, zu „Jugendlichen, die den Tod als Schmuck tragen“ werden. Oder, dass die amerikanische Präsidentenkarikatur Trump eine „Art Ästhetik der Mauer“ kultiviert. Demut, lauthals, eine kluge Kritik am gegenwärtigen Politsprech, lässt die Demut personifiziert auftreten und für Manöver dieser Art nimmt der Autor dann gerne auch onkelhafte Töne in Kauf. So schlimm ist das aber gar nicht. Wenn die Texte nämlich eines sind, dann sind sie ausgiebig recherchierte Wissens- und Diskursansammlungen.
Am besten gelingt der gaußsche Genremix dieses Mal im Herz des Waldviertels – wo Reisereportage, Historienbericht und Ich-Erzählung einander wunderbar in die Hände spielen.
Das Ich ist auf diesen unaufhörlichen Wanderungen zumeist nur stiller Teilnehmer und wird manchmal überhaupt zum Hintergrundstatisten. Der umtriebige Künstler dürfte es dementsprechend mit Aristoteles halten, der in der beobachtenden Haltung schon vor langer Zeit die höchste aller Lebensformen erkannt hat.
Karl-Markus Gauß: Die unaufhörliche Wanderung. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 208 Seiten, 23,70 Euro – www.hanser-literaturverlage
Bild: Paul Zsolnay Verlag / Kurt Kaindl