Der radikale Melodiker
ZUM 150. GEBURTSTAG VON FRANZ LEHÁR / BUCHBESRPECHUNG
05/08/20 Franz Lehár gehört zu jenen Komponisten, die heuer im Schatten des 250. Geburtstags von Beethoven stehen. Der Schatten ist so mächtig, dass sich in Salzburg keine der in Frage kommenden Institutionen an den 150. Geburtstag des großen Melodikers der Operette erinnern will. Da kommt ein neues, lesenswertes Buch gerade zur rechten Zeit.
Von Gottfried Franz Kasparek
„Dein ist mein ganzes Herz“ lautet der Titel des „Franz-Lehár-Lesebuchs“, das die Linzer Literaturredakteurin Heide Stockinger und der aus Lübeck stammende, aber in Österreich lebende PR-Spezialist und Dramaturg Kai-Uwe Garrels beim Wiener Böhlau-Verlag herausgebracht haben. Beide haben auch schon eine fundierte Biographie von Lehárs Tenor Richard Tauber verfasst. Diesmal steuert Heide Stockinger eine einfühlsame Besprechung des Goethe-Singspiels „Friederike“ und einen unterhaltsamen Essay über das Wiener Lehár (vormals Schikaneder) Schlössl bei und Kai-Uwe Garrels Erhellendes über die frühe Operette „Die Juxheirat“ und die Beziehung Lehár-Tauber. Unterhaltsam ist Helga Maria Leitners feuilletonistischer Spaziergang durch des Meisters Villa in Bad Ischl. Eine Rarität präsentiert Eduard Barth – „La danza delle libellule“ (Libellentanz), Lehárs „italienische“ Operette.
Michael Lakner, vormals Intendant in Ischl und nun im Baden bei Wien, stellt Leonard Prinsloos Aufsehen erregende Neudeutung der „Zigeunerliebe“ beim Lehár Festival 2012 und seine eigenen, sowohl den musikalisch grandiosen Werken dienenden als auch die Libretti zeitgemäß hinterfragenden Regiekonzepte zum „Zarewitsch“ und zur Rarität „Die blaue Mazur“ vor. Letztere soll ja, so das Coronavirus es will, heuer in der Badener Sommerarena gespielt werden. Nichts wie hin, wenn es geht!
Über Lehárs Eiertänze im „Dritten Reich“ referiert der Wiener Operettenkenner und Universitätsprofessor Wolfgang Dosch. Als Sänger, Regisseur und Musikwissenschaftler beschäftigt sich Dosch se
it Jahrzehnten mit dem (nicht nur) österreichischen Kulturgut Operette. Über Lehár in der Nazizeit gibt es eine Stellungnahme einer österreichischen Historikerkommission, die zwar sachlich nicht falsch, aber dennoch oberflächlich und tendenziös ist. Lehár, zu alt und kränklich, um zu emigrieren, zu politisch naiv, um Hitlers fatale Liebe zur „Lustigen Witwe“ abzulehnen, zitterte sieben Jahre lang um seine jüdische Frau Sophie und scheiterte teilweise tragisch an Versuchen, jüdische Freunde und Mitarbeiter zu retten. Dosch hat zudem ein besonders groteskes
Arisierungsvorhaben der Nazi-Kulturbonzen recherchiert. Die Operette „Der Rastelbinder“ (1902) sollte für die „deutsche Bühne“ gerettet werden. Deren populärste Figur, der sehr positiv gezeichnete und jiddische Melismen singende Wanderhändler Wolf Bär Pfefferkorn, musste natürlich „entjudet“ werden. Lehár und dem angefragten Textbearbeiter Rudolf Weys, beide „jüdisch versippt“, ist es gelungen, die Sache so lange zu verzögern, bis die schrecklichen „1000 Jahre“ vorüber waren. Und nicht nur Sophie Lehár, sondern auch die ebenso gefährdete Gattin des ständig am Abgrund zum KZ balancierenden Wiener Kabarettisten Weys überlebte den Holocaust.
Eine das Wesentliche dokumentierende Biografie Lehárs in Stichworten und ein Vorwort von Christoph Wagner-Trenkwitz komplettieren das informative, gut lesbare Buch. „Einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts (ja, dafür halte ich ihn!)“ schreibt Wagner-Trenkwitz. „Ehrung eines radikalen Melodikers“ betitelte der Spätromantiker Joseph Marx seine Kritik der „Giuditta“ anno 1934. Und so lange es Tenöre gibt, wird „Dein ist mein ganzes Herz“ die Menschen bezaubern.