Der Pfau gibt den Grundton an
STRAUB / DIE SINGENDEN STEINE VON MOISSAC
31/12/09 Ein neugieriger Mensch den 20. Jahrhunderts taucht ein in die Arithmetik der mittelalterlichen Mystik und entdeckt: pure Musik!Von Reinhard Kriechbaum
Adson von Melk, Benediktinernovize aus Melk, Schüler und Gehilfe von William von Baskerville, Franziskanermönch, Gelehrter, Diplomat zwischen Kaiser, Papst in der Frage um die Bettelorden: Man sieht die beiden vor sich, wie sie in Umberto Ecos "Name der Rose" über versteckte Symbole und Zeichen disputieren. Auch Rainer Straub hat seine Interpretation des Kreuzgangs im Kloster Saint Pierre im südwestfranzösischen Städtchen Moissac als "Disputatio" gehalten. Der Schüler stellt Fragen, der Meister führt ihn zur Erkenntnis. Das mag ein wenig altväterlich anmuten, aber es lockert den Zugang zu einer reichlich diffizilen Sache erheblich auf.
In der Musikwissenschaft ist Zahlensymbolik immer wieder ein Thema. In Messenkompositionen oder Motetten der Renaissance tun sich erstaunliche Türen auf, wenn man bestimmte Noten und Notenwerte abzählt und zueinander in Verbindung setzt: Ordnet man den Zahlen die Buchstaben des Alphabets, so tauchen die Namen von Widmungsträgern oder theologische Hinweise auf. Das erschließt sich Musiker wie Interpreten unmittelbar natürlich nicht. Es ist "Kopfmusik". Eher schon waren den Mönchen Symbol-Deutungen aus dem Visuellen möglich. Wenn sie tagtäglich mehrmals nach der Messe oder nach dem Stundengebet aus der Kirche heraustraten und durch den Kreuzgang gingen, da mögen sie schon mit Interesse die Kapitele der 116 Säulen betrachtet und darüber nachgedacht haben, wie wohl die jeweiligen Bibelszenen und die Tierdarstellungen zusammenhängen.
Rainer Straub - man kennt den ehemaligen Hauptschuldirektor aus Zell am See als Gründer und langjährigen Leiter des Paul Hofhaimer Consorts - bringt als Musiker natürlich einschlägige Neugier mit. Straub hat sich sehr gründlich eingelesen in die Materie und ist schließlich in Moissac zählend und auflistend zu Werke gegangen. Die Motive, die Zuordnung von Tiersymbolen zu Tönen, schließlich die Suche nach einer Choralmelodie: Es war vielleicht weniger überraschend, in einem den Aposteln Petrus und Paulus geweihten Kreuzgang eine zu deren Festtag passende Choralmelodie zu entschlüsseln, als die symbolkräftige Durchgestaltung insgesamt: Erst auf Seite 153 kommt Straub zur Musik, und bis dahin ist schon eine ganze Reihe von theologisch interpretierbaren Geheimnissen gelüftet!
"Das Schöne entsteht nach und nach aus vielen Zahlen", schrieb der antike Philosoph Galenus. Es stecken also auch in der bildhauerischen Schönheit eines mittelalterlichen Kreuzgangs Zahlen. Das ist nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Dem Leser wird ein gewisses Durchhaltevermögen zugetraut. Die verführerischen Fotografien von Bernd Pommer verführen dazu, einzudringen in die sperrige Materie. Wir sind schließlich um das Jahr 1100 unterwegs.
Auf der beiliegenden CD kann man den Introitus "Nunc scio vere" nachhören, gesungen von der Grazer Choralschola unter Franz Karl Praßl. Wie an vielen Bauwerken ist auch an der Musik im Nachhinein herumgebastelt worden, und das, was in den viereckigen Noten des Graduale Romanum steht, hat natürlich nicht direkt mit der Musikbotschaft der Säulen-Kapitele zu tun. Dazu bedurfte es erst der Suche nach einer authentischen Melodieversion, an der Godehart Joppich und Franz Karl Praßl beteiligt waren. Rainer Straub, als Lehrer ein guter Didaktiker, weiß die sperrigen Dinge nicht nur gut zu vermitteln. Er weiß auch, wo man im Zweifelsfall nachfragt.