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Völlig durchgeknallt

HINTERGRUND / DIAGONALE / DOKUMENTARFILME

21/03/10 Zwei Dokumentarfilme auf der „Diagonale“, die auch viel beitragen könn(t)en zur aktuellen Diskussion um Kindesmissbrauch und Härte in kirchlichen Internaten: „Die Kinder vom Friedrichshof“ und „Herrenkinder“.

Von Reinhard Kriechbaum

altVöllig duchgeknallt. Anders kann man es mit zwei, drei Jahrzehnten Abstand nicht beurteilen, was der Wiener Aktionskünstkler Otto Mühl mit seiner Kommune „Friedrichshof“ ab 1972 in der nordburgenländischen Pampa ein- und angerichtet hat. Es war der Versuch, eine gesellschaftliche Utopie zu verwirklichen: In einem Umfeld aus scheinbarer Freiheit, vor allem auch im Sexualverhalten, wurden die Ideologie der 68er Generation radikal umgesetzt. Man zeugte Kinder, trennte sie von ihren Müttern (die Väter waren sowieso nicht zuzuordnen). „Papa Mühl“ schuf sich eine Art Retortenwesen, die jenseits familiärer Strukturen und in einem - theoretisch zumindest - grenzenlos befreiten, schier unendlich kreativen Umfeld aufwuchsen.

Das hat immerhin zwanzig Jahre funktioniert. Was junge Leute, die dort geboren worden sind und lebten, jetzt der Regisseurin Juliane Großheim erzählten, verschlägt einem gelegentlich die Sprache. Die 1982 geborene Berliner Filmemacherin hat den nötigen Abstand zur Sache und die ebenso nötige Empathie für die in etwa gleich alten Gesprächspartner. All diese jungen Leute, jetzt zwischen 25 und dreißig Jahre alt, reflektieren äußerst selbstkritisch und bemerkenswert wenig polemisch, wie das damals gelaufen ist. Die Sache hat sich ja relativ rasch in eine Psycho-Diktatur verwandelt. Auch grenzenlose Freiheit funktioniert in der Gruppe nur mit Regeln, und Otto Mühls Modell-Kommune wurde schnell zum Terror-Internat – was die dort Lebenden freilich in dieser Zeit nicht hinterfragt haben. Sie folgten blindlings ihrem „Führer“.

Otto Mühl ist schließlich wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden. Das Areal beherbergt jetzt unter anderem Ateliers, ein Seminarzentrum und ein Museum des Wiener Aktionismus. Die Architektur mit dem eigenwilligen Uhrturm, der wie dein Wachturm eines Gefängnisses aussieht, erinnert fatal an Nazi-Bauten. Eine wohl nicht zufällige Assoziation.

altIns Elite-Schulwesen der Hitler-Zeit führte ein anderer Dokumentarfilm „Herrenkinder“ von Eduard Herne und Christian Schneider. Da geht es um die Einrichtungen mit dem Kürzelnamen „NAPOLA“ („Nationalpolitische Erziehungsanstalten“), Kaderschmieden für künftige Herrenmenschen. Drill und Schliff, ein ideologische Gehirnwäsche: Die Erzählungen von Zeitzeugen und originales Filmmaterial machen eine Gänsehaut. Interessante Leute waren dort Schüler, etwa der prominente Literaturkritiker Hellmuth Karasek oder der ehemalige österreichische Justizminister Harald Ofner.

Auch an diesem Film beeindruckt der hohe Reflexionsgrad, die differenzierte Sicht der Befragten. Und sowohl bei den „Kindern vom Friedrichshof“ als auch bei den „Herrenkindern“ ist ein Thema, wie sich das damals Erlebte ausgewirkt hat auf den Umgang mit der nachfolgenden Generation.

Genau das macht beide Filme so wertvoll und wichtig: Die Härte in den Nazi-Schulen war durchaus noch pädagogischer „Common sense“ in den darauffolgenden Jahrzehnten. Und umso vehementer haben sich andere Dinge - Stichwort sexuelle Enthemmtheit - in den Denk- und Erziehungsmodellen der Achtundsechziger entäußert. Wenn jetzt vor allem kirchliche Institutionen für ihren Erziehungsstil und auch Missbrauchsfälle am Pranger stehen, liefern beide Dokumentarfilme Belege, was für Zeit-Un-Geister sich damals fatal gekreuzt haben. Die Missbrauchsfälle, die jetzt im kirchlichen Umfeld diskutiert werden, haben sich mehrenteils ja genau in jener Zeit ereignet, in der Otto Mühl seine fatale Modell-Komune Friedrichshof verwirklicht hat. Und mancher Kirchenmann mag auch in NAPOLA-Schulen oder anderen Anstalten geprägt worden sein.

Dass die Dokumentation „Die Kinder vom Friedrichshof“ beim heute, Sonntag (21.3.), in Graz zu Ende gehenden Filmfestival Diagonale den Preis der Diözese Graz-Seckau (4.000 Euro) bekommen hat, ist gewiss kein Zufall. Aus der Begründung der Jury: „Unaufdringlich und dennoch auf einer hoch emotionalen Ebene positioniert, thematisiert die Regisseurin Juliane Großheim das kontroversielle Leben Otto Mühls. Die Darstellung der Kommune als Metapher für geschlossene Gesellschaftsysteme an sich kommt ohne didaktischen Fingerzeig und manipulative Kommentare aus und schafft so den Raum für eine kritische Auseinandersetzung.“

Bilder: Diagonale
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