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Ein Bruchstück-Philosoph

REST DER WELT / DIAGONALE / PERSONALE PETER SCHREINER

Unglaublich nahe rückt die Kamera, nicht nur ans Gesicht. Nicht einmal mit der Augenpartie begnügt sich Peter Schreiner, er zoomt sich noch weiter, auf ein Auge, auf die Lider. Ein Kamerablick, der schonungslose Aufdeckung zum Ziel hat?

Von Reinhard Kriechbaum

Aufdecken, bloßstellen eben nicht. Denn so genau der österreichische Dokumentarfilmer beobachtet, so viel Freiräume lässt er auch. „Wir sind nur berechtigt, diesen Film zu drehen, wenn wir die Menschen nicht hintergehen. Nicht sie belauschen oder ausstellen, sondern sie atmen, bewegen, reden lassen.“ Das hat der Filmemacher, dem derzeit bei der Diagonale in Graz eine Personale gilt, über seinen 1991 gedrehten Streifen „I Cimbri“ gesagt, eine Dokumentation über eine deutsche Sprachinsel in einem Gebirgstal im Trentino.

Geduld. Das ist es, was Peter Schreiner auszeichnet, und was er auch gestern, Mittwoch, nach der Diagonale-Projektions seines jüngsten Streifens „Totó“ betont hat: „Ich komme auf eine Spur und der Film entwickelt sich.“ Dieser Vorgang sei das eigentlich Spannende.

Geduld. Die braucht man durchaus auch als Zuseher. 128 Minuten ist „Totó“ lang, und es wäre übertrieben zu sagen, dass die Zeit wie im Flug vergeht. Soll sie auch nicht, denn schließlich ist das Thema eines, das Zeit braucht und reifen will. Totó heißt eigentlich Antonio Cotroneo. Er ist studierter Politologe, aber sein „Job“ ist Billeteur im Wiener Konzerthaus. Da hat man Zeit, zu beobachten und in sich hinein zu hören. Und die innere Stimme hat Totó, der viel herumgekommen ist im Lauf seines Lebens, vermutlich zugeflüstert: Such Deine Wurzeln. Oder in Totos gebrochenem Deutsch: „Mir ist vermisst, zurückzukommen.“

Die liegen im süditalienischen Kalabrien, nahe Tropea. Touristen fahren dort gerne hin, suchen eine malerische Altstadt auf dem Felsen. Totó aber sucht sich selbst, das Ich, seine Wurzeln und damit seine Verortung. Die hätte er durchaus notwendig, er, der zwischen Kalabrien und Wien an vielen Orten gelebt hat. Extreme Nahaufnahme und zugleich Fokussierung auf Hintergründe, die viel vom Umfeld mitteilen. Ein starker „Soundtrack“ aus dem schweren Atem des Protagonisten und ungefilterten Hintergrundgeräuschen. Es ist ein Auf und Ab, der jeweiligen Stimmungslage des Beobachteten entsprechend. Heimat wieder finden, zurückerobern? Unmöglich.

27 Jahre lang kenne er Totó, erzählt Peter Schreiner. Mit 120 Stunden Bildmaterial sei er von neun oder zehn Bahnreisen nach Kalabrien heim gekommen. Da war also ausreichend Zeit, Totó zu beobachten. Der Kalabrese ist ein langsamer, aber genauer Denker. Ein Bruchstück-Philosoph. Keiner hat ihn gedrängt oder bedrängt. Das ist selten heutzutage. „Als Filmemacher sehe ich mich als ersten Zuschauer“, sagt Peter Schreiner, und: „Ohne Staunen kann man keinen Film machen.“ Aus dem Staunen kommt er nicht heraus, und davon kann man sich bei der Diagonale in diesen Tagen ein umfassendes Bild machen. „Grelles Licht“ hat Schreiners erster Film geheißen - 1982 war das, und er beobachtete damals seine Familie, seine Freunde. Auch „Erste Liebe“ und „Kinderfilm“ entstanden in den achtziger Jahren und fokussierten Beobachtungen in der eigenen Nähe.  „Bellavista“ (2006), „I Cimbri“ (1991) - das sind Beiträge zum Thema „Heimat“, die ganz unzeitgeistig und vor allem unromantisch und jedenfalls ohne jede Polemik ein großes Thema unserer Zeit fassen. So wie eben auch „Totó“, diesmal von anderer Seite, aus der Sicht eines Migranten.

Erdgebunden, unaufgeregt ist das alles. Und von der Perspektive im Gegensatz zur technischen Machart keineswegs schwarzweiß. Vermeintlichen „Kommentaren“ seitens des Filmemachers steht Peter Schreiner sehr skeptisch gegenüber. „Die Dinge entstehen von selbst“, lautet sein Credo. Er delegiert lieber an jene, die er beobachtet: „Mir entspricht eher das Fragen-Formulieren als das Antworten-Finden“, versichert er. „Durch das Filmemachen bin ich befreit davon, ständig denken zu müssen.“

Bis Sonntag dauert noch die "Diagonale" in Graz – www.diagonale.at
Bilder: Peter Schreiner/Diagonale

 

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