Alter schützt vorm Lesen nicht
NEU IM KINO / DAS LABYRINTH DER WÖRTER
03/05/11 Gerade erst hat er in „Small World“ einen Mann gespielt, der sein Gedächtnis verliert. In Jean Beckers Film „Das Labyrinth der Wörter“ darf Gerard Depardieu einen Mann mit gutem Gedächtnis spielen. Allerdings nur für Dinge, die er hört, denn das Lesen fällt ihm schwer.
Von Michael Russ
Ein Mann. Germain - Gerard Depardieu. Breitschultrig. Den riesigen Bauch in einer Latzhose. Er stampft durch sein französisches Heimatstädtchen. Manchmal trampelt er auch – auf den Nerven seiner Freunde herum. Dabei ist er sehr gutmütig. Aber oft fehlt ihm das Feingefühl. Außerdem fehlt es ihm an Bildung. Daher lebt er von Gelegenheitsarbeiten. Und er züchtet Gemüse. Einmal in der Woche verkauft er es auf dem Markt. Er ist Mitte Fünfzig und lebt noch bei seiner Mutter. Allerdings in einem Wohnwagen im Garten, da das Verhältnis der Beiden immer schon ein Schlechtes war.
Margueritte (Gisèle Casadesus) ist gut vierzig Jahre älter als dieser Germain, war Wissenschaftlerin und lebt in einem Altersheim. Sie und Germain treffen sich in einem Park, kommen ins Plaudern und freunden sich an. Margueritte liebt ihre Bücher, liest Germain vor und bringt ihn nach und nach dazu, sich wieder mit dem Lesen auseinanderzusetzen. Wie man aus verschiedenen Rückblenden erfährt, hat Germain zwar die Schule besucht, wurde dort aber nur verspottet, weil er schon damals nicht besonders klug war. Dabei hat er ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber nur für Dinge, die er hört. Bei den Anstrengungen des selber Lesens scheint sich sein Gedächtnis abzuschalten. Aber Übung macht den Meister.
Germains Freunde kommen nicht besonders gut mit seinen neuen Ambitionen zu Recht. Der alte Germain, der keine Bücher las und keine Fremdwörter benutzte, war ihnen lieber. Den konnte man guten Gewissens zwischendurch einen Vollidioten nennen. Seine um zwanzig Jahre jüngere Freundin Annette (Sophie Guillemine) dagegen unterstützt ihn und übt mit ihm Lesen.
Vor allem die schauspielerischen Leistungen sind es, die „Das Labyrinth der Wörter“ sehenswert machen. Gisèle Casadesus und Gerard Depardieu sind ein kongeniales Team. Die feine alte Dame und der ungehobelte Klotz, sie zart und zerbrechlich, er dick und stark. Der Film ist komplett auf die beiden exzellenten Schauspieler ausgerichtet. Aber auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Germains Freunde sind etwas sonderbare Burschen, die viel Zeit im Wirtshaus verbringen, sie alle werden von markanten Typen gespielt. Nur Annette ist völlig normal. Ihre Beziehung zu Germain geht ein bisschen ins Märchenhafte, aber das gilt letztendlich für den ganzen Film.
Viele Regisseure hätten es mit leichter Hand geschafft, aus der Romanvorlage von Marie-Sabine Roger eine Kitschoper zu basteln. Aber Jean Becker umschifft diese Klippe, indem er den Humor nicht zu kurz kommen lässt. Beim Happy-End wird dann fast ein bisschen zu dick aufgetragen, aber für ein modernes Märchen geht das schon in Ordnung. Kurz gesagt: „Das Labyrinth der Wörter“ ist ein liebenswertes Stück Unterhaltung mit ausgezeichneten schauspielerischen Leistungen.