Der Tod und das pralle Leben
FILMKRITIK / STERBEN
07/06/24 Ein dreistündiger Film zum Thema Sterben, noch dazu von Matthias Glasner, dem Regisseur des sehr aufs Gemüt drückenden Vergewaltiger-Dramas Der freie Wille, klingt nicht gerade nach leichter Frühlingsfilmkost, nach der man sich derzeit vielleicht eher sehnen würde.
Von Andreas Öttl
Doch Sterben ist wider Erwarten ein kurzweiliger Film, der mit seiner schonungslosen Ehrlichkeit und erfrischenden Tabulosigkeit, aber auch mit seinem trockenen Humor auf eine seltsame Weise mehr Hoffnung macht als die meisten Wohlfühlfilme es je könnten.
In Sterben geht es um die dysfunktionale Familie Lunies. Lissy (Corinna Harfouch), Mitte siebzig, ist im Stillen froh darüber, dass ihr dementer Mann langsam dahinsiechend im Heim verschwindet. Doch ihre neue Freiheit währt nur kurz, denn Diabetes, Krebs, Nierenversagen und beginnende Blindheit geben ihr selbst nicht mehr viel Zeit. Die Tochter Ellen (Lilith Stangenberg) ist keine große Unterstützung, da sie dem Alkohol verfallen ist. Im Zentrum dieses Panoptikums steht ihr Sohn, der Dirigent Tom Lunies (Lars Eidinger), Anfang vierzig. Mit seinem depressiven besten Freund Bernard (Robert Gwisdek) und seinem Orchester arbeitet er an der Aufführung von dessen Komposition namens Sterben. Gleichzeitig macht ihn seine Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) zum Ersatzvater ihres Kindes, das eigentlich auch sein eigenes hätte sein können.
Sterben ist der bisher persönlichste Film von Matthias Glasner. Er hat damit den Tod seiner eigenen Eltern und die Geburt seines Kindes verarbeitet. Wieder einmal bestätigt sich: Filme, in denen Filmemacher*innen sich radikal offenbaren, bisweilen die Grenze auflösen zwischen ihrem eigenen Leben und der Fiktion, sind besonders berührend. Ihre Charaktere sind greifbarer und haben mehr Ecken und Kanten als jene, die weniger Bezüge zur unmittelbaren Realität haben. Zwar ist auch Sterben sehr präzise strukturiert (der Film ist in fünf Kapitel unterteilt und das auf der Berlinale prämierte Drehbuch sehr ausgefeilt) doch die oberste Prämissen von Glasner in Bezug auf seine Figuren sind trotz der Absurdität mancher Situationen Ehrlichkeit und Authentizität.
Glaubhaft wirkt das Szenario trotz seiner auf die Spitze getriebenen Tragik vor allem aufgrund des großartigen Darstellerensembles. Hauptdarsteller Lars Eidinger geht komplett in seiner Rolle auf und liefert die möglicherweise beste Leistung seiner bisherigen Filmkarriere ab. Neben ihm brillieren unter anderem Corinna Harfouch als gefühlskalte Mutter und Lilith Stangenberg als eine im Partyleben der Großstadt verlorene junge Frau, die keine Lust hat auf die Gesetze des Alltags. Aber auch die Nebenrollen sind allesamt hervorragend besetzt.
Ja, Sterben ist ein unromantischer, bitterer Film über den Tod, gewürzt mit viel Galgenhumor – aber auch ein zärtlicher, menschlicher Film über das Leben, die Liebe und die Leidenschaft. Matthias Glasner wandert damit überwiegend erfolgreich auf einem schmalen Grat: Das Ergebnis ist ein reifes Werk über Trauer, das sämtliche essenziellen Themen des Lebens behandelt und sich dabei kein Blatt vor den Mund nimmt. Aber auch eines, dass seine potenzielle Schwermütigkeit mit viel Situationskomik ausbalanciert. Nicht jede Szene geht komplett auf und nicht jeder Zuseher wird die Herangehensweise an dieses Thema gleichermaßen schätzen. Die Filmsprache mag – was möglicherweise auch stimmig ist – weniger raffiniert sein im Vergleich etwa zu den thematisch verwandten, aber letztendlich unterschiedlich konzipierten Arbeiten Amour von Michael Haneke und Vortex von Gaspar Noé. Dennoch steht außer Frage, dass Matthias Glasner mit Sterben einen der herausragendsten, ambitioniertesten deutschen Filme der letzten Zeit abgeliefert hat. Er wurde kürzlich dafür mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet und gewann für das Drehbuch den Silbernen Bären bei der Berlinale.