Der Meister klarer Musik-Architekturen
TODESFALL / MAURIZIO POLLINI
23/03/24 Zu seinem letzten Festspielkonzert ist das Publikum gekommen, aber nicht der Meister: Die Zuhörer waren damals, am 21. August 2022, bereits im Großen Festspielhaus versammelt, als das Konzert abgesagt wurde, wegen Herzproblemen des damals achtzigjährigen Pianisten. Heute Samstag (23.3.) ist Maurizio Pollini 82jährig in Mailand verstorben.
Von Reinhard Kriechbaum
Es war 1995, am 9. August im Großen Saal des Mozarteums. Das erste Konzert des Progetto Pollini. Viele saßen nur deshalb da, weil sie ausschließlich des prominenten Namens wegen Konzertkarten gekauft und keinen Blick auf den Programmzettel geworfen hatten. Der Meister hatte aber anderes im Kopf als Selbstinszenierung: Er programmierte auch Stockhausens Gesang der Jünglinge im Feuerofen. Nur Elektronik, kein Pianist zum Adorieren!
Und dann auch noch Stockhausens Klavierstück X ! Da reichte es einem im Publikum. Der Herr ging ganz nach vorne, pflanzte sich vor dem Klavier auf und schleuderte Pollini ein zorniges „Buh“ ins Gesicht. Der Meister zuckte kurz zusammen, der Empörte rauschte ab. Erinnert sich jemand, dass Pollini sonst einmal derart unfreundlich behandelt worden wäre vom Salzburger Festspielpublikum und jenem sonst irgendwo auf der Welt?
1973, als Maurizio Pollini bei den Festspielen debütierte, war eigentlich klar: Chopin musste es sein, im konkreten Fall dessen zweites Klavierkonzert – mit den Wiener Philharmonikern unter Claudio Abbado. Im Jahr zuvor war seine Einspielung der Chopin-Etudes erschienen, die gleich mal als Referenz-Aufnahme eingestuft wurde. Auch wenn manchen manch liebgewordene interpretatorische Unart aus der Kollegenschaft schon abging. Pollini hatte sich sehr klar für eine strukturbetonende Lesart entschieden. Nichts da mit Rubati, mit ohrenschmeichelnden Tempo-Verschleifungen.
Den klaren Blick auf Strukturen hat Pollini wohl schon als Kind daheim mitbekommen, als Sohn eines Mailänder Architekten. Es verwundert also keineswegs, dass er sich bald auch als ein Muster-Interpret für die Klaviermusik des 20. Jahrhunderts einführte, für die Zweite Wiener Schule etwa. Anlässlich des 100. Geburtstags von Arnold Schönberg führte er dessen Gesamtwerk für Klavier in mehreren Städten auf. Auch Berio und Nono hat man immer wieder gerne von Pollini gehört, und natürlich auch Werke des ihm durchaus wesensverwandten Pierre Boulez.
Pollini hat in Salzburg zwei Progetto-Zyklen gestaltet, 1995 und 1999, in denen man sich ein Bild machen konnte vom weiten Horizont dieses Interpreten. Hat es eigentlich seit Pollinis Salzburger Festspiel-Debüt 1973 überhaupt ein Jahr gegeben, in dem er nicht zugegen war? Da muss man schon drei Dezennien zurückblättern. Einzig 1975, 1983 und 1990 waren karge, weil Pollini-lose Sommer.
„Mit Maurizio Pollini verliert die Musikwelt einen der ganz großen, einen der wesentlichsten Pianisten unserer Zeit“, so Festspielintendant Markus Hinterhäuser über Pollini. „Seine jährlichen Auftritte zählten zu den unvergesslichen Sternstunden der Salzburger Festspiele. Ausgestattet mit einer stupenden Technik, einem unbestechlichen Intellekt und interpretatorischem Mut, ging Maurizio Pollini weit über das für einen Pianisten seines Ranges Erwartbare hinaus. Sein Repertoire reichte vom Klavierwerk Johann Sebastian Bachs über die große Literatur der Klassik und der Romantik bis hin zur Musik unserer Zeit. Die Werke von Arnold Schönberg, Luigi Nono, Salvatore Sciarrino, Karlheinz Stockhausen oder Pierre Boulez wusste Maurizio Pollini in einzigartiger Weise hör- und erlebbar zu machen.“
Seine letzten Aufnahmen erschienen bei der Deutschen Gramophon, ein Projekt mit den letzten Beethoven-Sonaten. Zuletzt wurden 2022 die Sonaten Nr. 28 A-Dur op. 101 und Nr. 29 B-Dur op 106 (Hammerklaviersonate) veröffentlicht – jene, die Pollini im gleichen Jahr eben krankheitsbedingt nicht mehr in Salzburg spielen hat können. Das Fünfzig-Jahre-Jubiläum bei den Festspielen war dem Meister nicht mehr gegönnt.
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli