Zeit verlieren – Freiräume gewinnen
INTERNATIONALE PÄDAGOGISCHE WERKTAGUNG
15/07/16 „Hast du es eilig, gehe langsam“ - das war Titel eines Doppelreferats heute Freitag (15.7.), dem letzten Tag der Internationalen Pädagogischen Werktagung. Zwei amerikanische Wissenschafter, Dorothé Bach und John Baugher waren zu Gast.
Zeitdruck ist eine Alltagserfahrung auch in unserem Bildungswesen: Stofffülle, Leistungsstandards, Informationsüberfluss und die allgegenwärtigen Ablenkungen durch soziale Medien tragen zur Beschleunigung von Kommunikationsprozessen im Bildungswesen bei. In einer Kultur der Zeitknappheit versucht die kontemplative Pädagogik Raum zu schaffen, mentale Qualitäten und Einstellungen zu kultivieren, die für das Lernen essenziell sind. Dorothé Bach und John Baugher machen sich für die neuen „3 Rs” stark – „resilience, relationships, and reflection“. Ansätze, die ihrer Meinung nach neben der traditionellen Fokussierung auf Lesen, Schreiben und Rechnen einen Platz in der gesamten Bildungslaufbahn vom Kindergarten bis zur Universität zu berücksichtigen wären.
Das entspricht durchaus den Erfahrungen, die am Donnerstag (14.7.) die deutsche Verhaltensbiologin und Ethnologin Gabriele Haug-Schnabel weitergegeben hat. Sie forscht in den Bereichen kindliche Entwicklung und Qualität in der außerfamiliären Betreuung und kennt den Alltag in vielen Kinderbetreuungseinrichtungen. Individuelle Bedürfnisse von Kindern über den starren Tagesablauf einer Betreuungseinrichtung zu stellen sei der zentrale Anspruch, an dem es zu arbeiten gelte. Der Blick gehöre „mehr auf das Kind und weniger auf die Uhr“ gerichtet. „Passt unsere Pädagogik noch zu unseren Kindern?“, diese Frage sollte in der Betreuung von Kindern immer präsent sein, denn das Zeit-Verständnis der Kinder entwickle sich unterschiedlich.
Lothar Böhnisch ist in der Jugendforschung tätig und greift den Begriff des „Jugendmoratoriums“ auf, der Jugend als einen Zeitraum betrachtet, in dem Kinder sich in geschütztem Rahmen qualifizieren und entwickeln können. „Generation Y“ bezeichnet heutige junge Menschen, die das Bildungssystem teils kritisch hinterfragen und noch mehr als die Jugendgenerationen vor ihnen auf die Gegenwart zentriert sind. Die „Digital Natives“ leben im Jetzt und fühlen sich von der Vergangenheit wenig betroffen.
Was der in Dresden tätige Sozialpsychologe feststellt, ist eine zunehmende Zeit- und Stoffverdichtung an den Schulen. Diese Beschleunigung und länderübergreifende „Bildungskonkurrenz“ übe immer größeren Druck auf Schulen, Schüler und Lehrer aus, „mithalten“ zu müssen. Jugendliche, die diesem Druck nicht standhalten und keine Räume mehr vorfinden, in denen sie Zeit und Anerkennung erfahren, entwickelten mitunter Auffälligkeiten und landetenn auf dem Abstellgleis. Böhnisch fordert daher den Mut ein, auch „sozialpädagogische Umwege“ in Kauf zu nehmen, um Räume für alle SchülerInnen zu öffnen und sie in ihrem ganzen Wesen zu erfassen. In diesen Umwegen sieht der Soziologe Chancen: „Verlorene Zeit wird zur gewonnenen Zeit.“ (IPW/dpk)