Kunst und Kultur, Wirklichkeit und Möglichkeit
GASTKOMMENTAR
30/11/16 Überfordert man Kunst und Kultur nicht maßlos, wenn man ihr in Zeiten wie diesen die Pflicht aufbürdet, die Welt zu verbessern? Das haben wir – in der Hoffnung auf Widerspruch – dieser Tage in einem Kommentar gefragt. Tomas Friedmann ließ mit Gedanken dazu nicht lange auf sich warten.
Von Tomas Friedmann
Reinhard Kriechbaum hinterfragt in seinem Kommentar „Aus der moralischen Anstalt“ die (politische) Bedeutung von Kunst und Kultur. Er meint, dass positive Stimmen aus dem Personenkomitee für eine Bewerbung Salzburgs als „Europäische Kulturhauptstadt 2024“ auf ein partizipatives Verständnis seligmachender kultureller Kräfte hinauslaufen würden. Ja, Kunst kann tatsächlich den „Staub des Alltags von der Seele“ waschen (wie Pablo Picasso sagte). Das bedeutet nicht, dass Menschen mit einer Begeisterung für Kunst naiv sind oder eine Gesellschaft aus lauter KünstlerInnen automatisch eine bessere wäre. Doch ohne Musik, ohne Literatur, ohne Architektur etc. wären wir arm und „zurückgeblieben“, denn Kunst kann nicht nur erfreuen, sie kann Dinge bewusst machen, sie zeigt dem Menschen Möglichkeiten auf und lässt uns Wahrheiten erkennen.
Zuerst sollten wir die Begriffe trennen, die neuerdings so gerne in einem Atemzug genannt werden: Kunst und Kultur.
Kultur ist im Kant’schen Sinn mehr als „Zivilisation“, denn zu ihr gehört auch die Idee der Moralität. In den vergangenen 200 Jahren hat sich der Kulturbegriff weiterentwickelt, wurde der Natur entgegengesetzt, national missbraucht und aufgespaltet in Schriftkultur, Esskultur, Wohnkultur, Volkskultur, politische Kultur etc. Kulturen wandeln sich wie das Leben, weil sie Identität, Zeit und (soziale) Räume widerspiegeln, Wirtschaft, Wissenschaft, Religionen und unsere Rechtssysteme abbilden und unser Zusammenleben beeinflussen.
Kunst hingegen ist ein kreativer Prozess, der zu „Ergebnissen“ führen kann, die keinen unmittelbaren Sinn haben (müssen), sondern aus Wissen, Wahrnehmung, Übung, Vorstellung und Intuition entstehen. Kunst ist frei und seit der Aufklärung „autonom“ zu betrachten – z.B. Mozarts „Jupitersymphonie“, Cézannes „Äpfel und Orangen“ oder Rilkes Gedicht „Der Panther“. Erst der Markt macht aus der Kunst ein Produkt, das außerhalb der jeweiligen Kultur kaum überleben kann (oder erst in der Zukunft wirkt, verstanden und wahrgenommen wird – manchmal zu spät für die Künstler).
Heute gibt es ein breites Angebot an künstlerischen Formen und deren Vermittlung, ja, das Angebot ist – wie in vielen Bereichen (Supermarkt, Internet, Technik usw.) – so groß, dass niemand mehr einen Überblick hat, Grenzen verschwimmen und der kommerzielle Erfolg allein gern als Gradmesser hergenommen wird. So wird gefördert, was das Publikum wünscht, und die Medien berichten fast nur mehr darüber, was oft gehört, gelesen und gesehen wird. Die Spirale führt zu einer Verengung des Marktes, was außerhalb liegt gilt als Luxus und Liebhaberei, wird gar angefeindet und abgelehnt (was nicht heißt, dass alles Erfolgreiche wenig Qualität hat und nur verkannte Genies das „Wahre“ schaffen).
„Gut“ und „schlecht“ sind oft schwer zu erkennen und zu trennen, in einer globalen Welt ist alles komplex und kompliziert geworden. Das eröffnet Populisten die Möglichkeit, mit einfachen Fragen und vor allem noch einfacheren Antworten das Feld von – aktuell „rechts“ – aufzuräumen. Schuld an (oft durchaus kritikwürdigen) Zuständen und Verhältnissen sollen jedenfalls die jeweils Anderen sein; dagegen sei Ilse Aichingers Essay „Aufruf zum Mißtrauen“ als Lektüre empfohlen: „Wir müssen uns selbst misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!“
Viele Menschen wirken müde und erschöpft ob medialem Dauergetöse über die kaum mehr zu bewältigenden Probleme des Alltags und Krisen vielerorts. Viele Menschen verstehen nicht mehr herrschende politisch-ökonomische Systeme, die bloß Wählern und Anerkennung hinterher zu hecheln scheinen. Viele Menschen fühlen sich vom Konsum(zwang) erschöpft und erdrückt. Wer formuliert noch klare, kritische und positive Gedanken? Intellektuelle sind wenig gefragt, ja, die Bezeichnung gilt für manche schon als Schimpfwort.
In solchen Zeiten bietet die Kunst eine Chance, Augen und Ohren zu öffnen, „Kopf, Herz, Hand und alle Sinne“ (Heinrich Schellhorn) anzusprechen. Nicht, dass Kunst damit gleich die Welt verändert – aber was wäre die Alternative? Mauern hochziehen und sich national abzuschotten, wie dies Trump, LePen oder Hofer wollen, sind gewiss keine Lösung. Das wissen wir, ein Blick in die Geschichte genügt. Wir müssen andere, neue „Geschichten“ erzählen...
Eine Bewerbung Salzburgs als „Europäische Kulturhauptstadt 2024“ böte die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Begegnung, der offenen Diskussion, der ehrlichen Auseinandersetzung. Es geht um die demokratische Wahrnehmung unterschiedlicher Meinungen, um geduldiges Zuhören und mutiges Handeln – für ein besseres Zusammenleben in Stadt und Land als kleiner Beitrag für die Welt. Das wäre für mich Kultur im 21. Jahrhundert.
Tomas Friedmann leitet das Literaturhaus Salzburg und ist Beauftragter des Dachverbands Salzburger Kulturstätten für das Projekt „Kulturhauptstadt 2024“
Bild: dpk-klaba
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