Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn
KOMMENTAR
Von Reinhard Kriechbaum
10/11/16 So viel spontane Freude ist seit anderthalb Jahrzehnten nicht aufgekommen beim Durchblättern eines neuen Festspielprogramms: nicht in der Ära des intellektuellen Peter Ruzicka, nicht in jener des notorisch jovialen Jürgen Flimm. Und in jener des Highlight-Protzers Alexander Pereira schon gar nicht.
Wie eizelne Programmpunkte und ihr Zusammenspiel letztlich „funktionieren“, das kann man freilich erst im Nachhinein beurteilen. Aber im Vorhinein lässt sich sagen über die Salzburger Festspielsaison 2017: Was da an Namen und Werktiteln steht, macht schon einmal unsäglich neugierig. Verdis „Aida“ wird ohne Elefanten auskommen müssen, aber die iranische Filmemacherin, Fotografin und Videokünstlerin Shirin Neshat als Opernregisseurin, damit lockt Hinterhäuser auch den nicht gerade als Regietheater-Fetischisten beleumundeten Riccardo Muti. Neugierig macht nicht minder William Kentridge, der Alban Bergs „Wozzeck“ in Szene setzt.
Gleich zwei bildende Künstler im Opern-Regiesessel! Da schränkt freilich auch Hinterhäuser ein, dass das so nicht wiederholbar sei. Der durchaus „legendäre“ Peter Sellars für die Szene von Mozarts „La clemenza di Tito“, aber mit Teodor Currentzis ein viel versprechender Newcomer am Pult: Da sagt keiner, dass wirklich etwas rauskommt, aber bei der Zündung der Versuchsrakete möchte man schon unbedingt dabei sein.
Was ist Understatement? In einer Pressekonferenz über die iranische Aida-Regisseurin zu reden und gar nicht von Anna Netrebko, die die Titelrolle singt. Nina Stemme ist Lady Macbeth von Mzensk (zur Oper passt der neue Schwerpunkt „Zeit mit...“, in dem neben Gérard Grisey auch Schostakowitsch im Zentrum steht), Matthias Goerne der Wozzeck, alle drei Monteverdi-Opern halbszenisch unter Sir John Eliot Gardiner, und zeitlich benachbart dazu gleich die „Marienvesper“ in der Ouverture spirituelle, die diesmal am 21. Juli einsetzt: Man kocht nicht auf Sparflamme, auch nicht im Schauspiel, das nun Bettina Hering leitet. Wedekind („Lulu“) gab's noch nie bei den Festspielen. Gerhart Hauptmann auch noch nie, geschweige denn dessen Stück „Rose Bernd“. Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“ mit der amerikanischen Künstlergruppe 600 HIGHWAYMEN wird man sich nicht entgehen lassen und Harold Pinters „Geburtstagsfeier“ ist mal was anderes aus der literarischen Neuen Welt.
Der belesene Markus Hinterhäuser weiß so schlagfertig wie unprätentiös auch auf eine etwas aufdringlich belehrende Hobbyjournalisten-Frage nach vertiefenden dramaturgischen Zusammenhängen zu kontern. Robert Musil fällt ihm dazu ein, der zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn unterschied. Beides scheint im Festspielsommer 2017 zumindest nahe aneinander geführt. Auch wer nur drei oder vier Tage da ist, hat gute Chancen, etwas Sinnstiftendes zwischen den Programmpunkten mit zu bekommen. Festspiel-Mehrwert über den sängerischen, schauspielerischen oder konzertanten Spontan-Reiz hinaus ist durchaus zu erwarten. Das muss auch so sein, wenn man wie eben Hinterhäuser als Intendant und Helga Rabl-Stadler als Festspielpräsidentin das Vorwort mit „Epizentrum des Besonderen“ übertitelt. Man legt sich die Latte nicht niedrig.
Er sehe sich als „Navigator durch fünfeinhalb Wochen“, in einem Festival, in dem in dieser Zeitspanne immerhin 250.000 Karten aufgelegt werden und demnach Augen und Ohren beständig wechseln. Aber es sollten, müssten ja auch jene etwas von den ihm als Intendanten und Programm-Macher wichtigen Dingen mitbekommen, die eben nur begrenzte Zeit da sind. Und das ist ja das Gros der Festspielbesucher.
Das Festspielprogramm 2017 zum Download - www.salzburgerfestspiele.at
Zum Vorbericht aufs Opernprogramm 2017
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