Schüchtern
STICH-WORT
Von Christina Repolust
30/06/10 Sie schauten mich alle an und ich wurde schüchtern. Ich kam nicht schüchtern zu diesen fünfzehn Kindern in die Stadtbücherei Hallein, aber dann sahen sie mich an. So ehrlich, so interessiert, manche ein wenig skeptisch.
Bei den so genannten Erwachsenen habe ich wohl vor fünfzig Jahren jede Schüchternheit abgelegt und vor den meisten auch den Respekt. So leicht waren und sind die Großen und Wichtigen zu durchschauen. Schüchtern werde ich bei den Eltern von Neugeborenen. Ob ich das Baby auf den Arm nehmen möchte? Ja, gerne, wenn ich das darf.
Schüchtern bin ich auch gegenüber meinen erwachsenen Kindern, immer dann, wenn ich in ihren selbst geschaffenen und autonomen Lebensraum eintrete. Das kann bereits bei der Türklingel beginnen. Ich will nicht stören.
Schüchtern ist, an der Unterlippe zu kauen und drei Versionen der folgenden zehn Minuten im Kopf zu inszenieren. Als Kind fürchtete ich mich nie vor den Großen, sondern vor den Gleichaltrigen, die ich so schwer verstand. Schüchtern war ich auch beim ersten Treffen mit meinem Freund, da konnte ich nicht einmal den Kaffee richtig schlucken, ich war zugeschnürt, mir war kalt und alles würde sich jetzt entscheiden. Wenn ich doch nur etwas richtig Kluges sagen könnte. Der Schüchterne und die Schüchterne suchen nach Zauberworten, glauben an Magie und Erlösung. Rote Flecken am Hals verraten sie, von roten Ohren wollen wir hier gar nicht schreiben.
Wenn man die Eltern der eigenen Liebhaber oder Freunde oder Ehemänner kennen lernt, ist es üblich, schüchtern zu sein. Oder eingeschüchtert zu werden von diesem Gebäude der gemeinsamen Vergangenheit des Gegenübers, das so viele „Wir“ kennt. In jedem Zimmer wohnt eine Geschichte, zu der man nicht gehört.
Kameras sind Sehhilfen für Schüchterne, sind eine gute Tarnung. Meine Schüchternheit trägt heute zitronengelb und geht meiner roten Alltagsrüstung, die da eilig die Tür aufreißt, unauffällig aus dem Weg. „Wer war das?“, will die Alltagsrüstung wissen. „Du wirst sie noch kennen lernen, sie ist nett“, sage ich und nage an der Unterlippe.