Ergriffenheit
STICH-WORT
Von Christina Repolust
24/05/10 Schön schaut dieses Wort auf den ersten Blick ja nicht aus. Vielleicht, weil es missbraucht wurde, nach Kranzniederlegung riecht und nach Heuchelei. Dieses Wort hat vielleicht einen leichten Pelz aus Moos umgelegt, schnell möchte man an ihm vorbeihuschen. Doch dann, in der Halleiner Galerie pro-arte, steht es neben mir und riecht gerade richtig für diesen Moment. Unzählige Arbeiterhandschuhe sind hier in einer Installation verbunden, täglicher Schweiß der Hackler, die am wenigsten von der nach ihr benannten Pension profitieren. „Ergriffenheit“ und „ich bin ergriffen“ macht den Ausstellungsraum nahezu heilig, im besten Sinn, ohne Rom und die Kirche. Autonom und heilig. Nur eine Tür weiter, in der Stadtbücherei Hallein, hielt mir kurze Zeit später ein Bub ein Buch hin und sagte leise: „Liest du das vor?“ Er meinte mich und das hat mich ergriffen, dieser Blick voller Vertrauen auf ein „Ja“. Ergriffenheit passt nicht in meine Fototasche mit der Digitalkamera, sie will vielmehr zur analogen Kamera, in der der Schwarz-Weiß-Film nach Belichtung schreit.
Gerührt zu sein ist weniger als ergriffen zu sein. Die Ergriffenheit ist wohl die ältere Schwester der Rührung, die vom vielen Weinen bei den Sissy-Filmen noch ganz erschöpft ist. Die Ergriffenheit zieht sich in sich selbst zurück und verscheucht die Zuschauer. Sie wartet auf mich. Hätte ich jetzt nicht blöde mit der Rührung und der noch seichteren „Betroffenheit von“ geplaudert, hätte ich einige Wahrheitsminuten mehr in meinem Leben gehabt.
Die Ergriffenheit trägt meistens einen Schal in Violett, sie trinkt Espresso und raucht Zigarren. Sie ist bestimmt und höflich: Nein, neben mir ist nicht frei. Ich muss alleine sein.