Dr. Hohenadls Lösung zur Überwindung der Krise
SATIRE
13/01/22 Senatsrat Weninger stieß einen Seufzer aus, als ihm die Sekretärin einen Brief von Dr. Hohenadl vorlegte. Fast jede Woche kam ein Brief von Dr. Hohenadl, weil sich Dr. Hohenadl nicht entmutigen ließ. Eine mehrwöchige Pause hatte es lediglich damals gegeben, als Dr. Hohenadl mit dem Kardinal Erzbischof korrespondierte.
Von Werner Thuswaldner
Damals ging es um ein Windkraftwerk auf dem Stephansplatz. Dr. Hohenadl legte meteorologische Gutachten vor, die besagten, dass der Ort mit dem ergiebigsten Windaufkommen in Österreich der Wiener Stephansplatz sei. Senatsrat Weninger war nicht bereit gewesen, mit Dr. Hohenadl über dieses Projekt zu diskutieren, bevor nicht der Kardinal Erzbischof seine Einwilligung dazu geben wollte. Der Sekretär des Kardinals schrieb von „der Entweihung des Orts“. Dr. Hohenadl legte daraufhin Skizzen vor, die ein befreundeter Architekt für ihn angefertigt hatte. Sie zeigten, dass sich ein derartiges Kraftwerk durchaus im neugotischen Stil errichten ließe und so wie ein Element aussehen könnte, das zur Kathedrale von je her dazu gehöre. Zudem, argumentierte Dr. Hohenadl, dränge es sich geradezu auf, in den Rotoren des Windkraftwerks ein Symbol für die Dreieinigkeit zu sehen. Gottvater, Gottsohn und Gott Heiliger Geist hießen, wie aus der Skizze hervor ging, die drei Flügel des Rotors. Auf der Computersimulation, die ihm sein Freund zauberte, sah das Windkraftwerk tatsächlich so aus, als stünde es schon seit Jahrhunderten an seinem Ort.
Dr. Hohenadl war vom Kardinal enttäuscht. In dessen Antwortbriefen standen weiterhin die Wörter „Entweihung“ und „Blasphemie“, jeweils mit Ausrufezeichen.
Es hatte damit begonnen, dass Dr. Hohenadl von einer plötzlichen Unruhe erfasst wurde. Dafür gab es einen zweifachen Grund: Erstmals im Leben fühlte Dr. Hohenadl, persönlich verantwortlich zu sein. Für den steigenden Energieverbrauch und für die Veränderung des Klimas. Gekoppelt waren diese Ängste mit der Befürchtung zu verarmen. Möglichkeiten zu irgendwelchen Einkünften sah er nicht. Er musste vom ererbten, angelegten Geld leben und merkte, dass die Substanz abnahm. Durch Inflation, durch die lächerlich geringen Zinsen, durch Abstürze im Bereich der Aktien. Dr. Hohenadl sah, dass sich das Klima verschlechterte und wie unsicher die Kernkraftwerke im Grunde waren. Deshalb fing er an zu sparen, Energie zu sparen. Von da an benützte er nie mehr den Lift, um in seine Wohnung im vierten Stock in der Königsegggase zu kommen, sondern ging die 102 Stufen zu Fuß hinauf und hinunter.
Er kaufte sich ein gebrauchtes Fahrrad und hoffte, dass seinem Beispiel andere folgen würden. In der Folge, so dachte er, brauchten die U-Bahnen nur noch in größeren Abständen zu verkehren.
Dr. Hohenadl kaufte sich eine Stoffbrille, wie sie die Stewardessen für Nachtflüge austeilen. Sein Ehrgeiz war, sich in der Wohnung völlig blind bewegen zu können, um abends und nachts Strom sparen zu können. Er übte das Aufsperren, das Hineingehen und Abschließen, das Ablegen des Schlüssels; dann kam der Mantel dran, der in den Garderobenschrank gehängt werden musste; die Schuhe wurden gegen die Hausschuhe getauscht, und dann tastete er sich vor ins Wohnzimmer. Es kam anfangs vor, dass er sich neben das Sofa setzte, und einmal verletzte er sich an der Kante des Glastisches. Am längsten brauchte er in der Küche, um dort die nötigen Handgriffe einzustudieren.
Dabei aber wollte es Dr. Hohenadl nicht bewenden lassen. Auf das Fernsehen zu verzichten, fiel ihm leicht. Das Radiohören schränkte er auf eine Stunde am Abend ein und behielt es als „kleines Laster“, wie er sich selbst eingestand, vorläufig bei. Sein Eifer wuchs, er setzte sich das Ziel, Energie autark zu werden, ja, womöglich noch weiterzugehen und überschüssige Energie ins Netz einzuspeisen, um so Geld zu verdienen.
Weil er wegen der sturen Haltung der Kirchenbehörden auf dem Stephansplatz nicht weiterkam, überlegte Dr. Hohenadl die private Anschaffung kleiner Windräder, die er vor seinen sechs Fenstern platzieren wollte. Als erstes bastelte Dr. Hohenadl ein Mühlrad, das er im Bad testete. Er schloss einen Dynamo an und war mit der geringen Stromausbeute höchst unzufrieden. Bald wurde ihm klar, dass er die Fallhöhe des Wassers auf das Mühlrad vergrößern musste. Als er einen Wasserstrahl von der dreieinhalb Meter hohen Decke auf das Mühlrad herunterstürzen ließ, strahlte das Licht der angeschlossenen Lampe schon heller. Bald aber kam er drauf, dass die Kosten für den Wasserverbrauch die Ersparnis durch den gewonnen Strom nicht aufwog. Deshalb kaufte er eine elektrische Pumpe, die das Wasser nach dem Herabstürzen wieder hochhievte. Kurz glaubte Dr. Hohenadl, das perfekte Perpetuum mobile erfunden zu haben. Das Wasser stürzte herab, trieb das Mühlrad an, der mit dem Dynamo gewonnene Strom betrieb die Pumpe, die das Wasser wieder nach oben beförderte. Aber ein geschlossener Kreislauf war das nicht. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, war zusätzliches Wasser nötig. Dr. Hohenadl rechnete und musste sich am Ende eine Niederlage eingestehen.
Doch als er, vor der Badewanne knieend, über sich ein Rauschen vernahm, wurde er stutzig. Das Geräusch kam von seinem Nachbarn über ihm, dem pensionierten Geschichtelehrer Prohaska. Die Klospülung? Nein, es konnte die Klospülung nicht sein, denn das Geräusch hielt an. Prohaska ließ die Badewanne aus. Dr. Hohenadl verfiel ins Grübeln. Wie oft passierte es in Wien, dass Badewannen ausliefen und das Wasser ungenutzt hinunter in die Kanalisation verschwand. Die Vorstellung von so viel Vergeudung bereitete Dr. Hohenadl größtes Unbehagen und trieb ihn zur Eile an.
Damals begann Dr. Hohenadls Briefwechsel mit Senatsrat Weninger von der Magistratsabteilung 31. Dr. Hohenadl bat um Unterstützung eines Versuchs, den er anstellen wollte. Er hatte vor, im Keller des Hauses, in dem er am Loquaiplatz wohnte, ein Kleinkraftwerk einzurichten, gestützt auf die Berechnung, dass das Abwasser von sechzehn Parteien im Haus, die nötige Frequenz zum Antrieb einer kleinen Turbine ergeben müsste. Weninger antwortete ihm, dass dafür die Genehmigung vom Hauseigentümer erteilt werden müsse. Diese Hürde nahm Dr. Hohenadl, nicht zuletzt mit seinem Hinweis, dass sein Versuch, den er allein finanzieren wolle, vom Magistrat der Stadt Wien gutgeheißen werde.
Doch gleich danach entdeckte Dr. Hohenadl die nächste Hürde: Der Abfluss sammelte auf seinem Weg durchs Haus nicht nur Prohaskas Badewasser und was die Bäder der anderen Wohnungen hergaben, sondern alles, was die verschiedenen Parteien an halbwegs Flüssigem loswerden wollten, darunter auch alle Endergebnisse menschlicher Verdauung.
Diese Erkenntnisse bedeuteten einen schweren Rückschlag für Dr. Hohenadl. Aber er gab nicht auf. Auf eigene Kosten setzte er eine Installation im Haus durch, die zu einer Trennung der diversen Flüssigkeiten führte. Die Turbine im Keller sollte nicht mit Stoffen blockiert werden, die sie hätten verstopfen können. Außerdem sollten ernsthafte Geruchsprobleme gar nicht erst aufkommen. Dr. Hohenadl zog den Plan durch, obwohl seine Berechnungen ergaben, dass man mit einer Amortisierung der Ausgaben erst lang nach seinem Ableben würde rechnen können. Ihn beflügelte die Vorstellung, dass nach seinem Vorbild zuletzt in allen großen Zinshäusern Wiens kleine Turbinen zur Energiegewinnung in Betrieb sein würden.
Dr. Hohenadl plante nicht nur sorgfältig, sondern bereitete auch eine Werbemaßnahme vor. Für die fünfzehn Wohnungen im Haus verfasste er ein Flugblatt, auf dem er im Ton eines Gesundheitsratgebers auf die Wichtigkeit des regelmäßigen Wannenbads hinwies. „Mit dem flüchtigen, nur oberflächlich wirkenden Duschbad nicht zu vergleichen“, hieß es im Text.
Je näher der Startzeitpunkt rückte, desto nervöser wurde Dr. Hohenadl. Senatsrat Weninger hatte ihm in einem Brief Erfolg gewünscht, aber den dringenden Wunsch betont, mit dem Versuch auf keinen Fall in Verbindung gebracht zu werden. Diese Anmerkung störte Dr. Hohenadl nicht, denn er war sich des Erfolgs sicher. Er hielt sich in diesen Tagen mehr unten im Keller vor den Turbinenhäuschen auf als in seiner Wohnung. Als es losging, hatte Dr. Hohenadl fast ständig sein Ohr an der kalten Druckrohrleitung. Es tat sich nichts. Es träufelte höchstens. Nur selten schoss ein kurzer Schwall herunter, der die Turbine für ein paar Umdrehungen in Bewegung setzte.
Dr. Hohenadls Niedergeschlagenheit nahm von Tag zu Tag zu. Es kam der Samstag, und da, zwischen sechs und neun Uhr abends schöpfte er ein wenig Hoffnung. Von den fünfzehn Haushalten schienen drei die Badewanne in Betrieb genommen zu haben.
Dr. Hohenadl hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Wiener nicht wuschen. Wohl war ihm bekannt, dass das private Bad im Wohnbereich eine Errungenschaft der jüngsten Zeit war und dass es früher üblich war, ins Gemeinschaftsbad zu gehen. Dr. Hohenadl erinnerte sich, dass man sich früher nicht viel dabei dachte, dass einen, wenn im Kaffeehaus ein Kellner an einem vorbeiging, ein ranziger Geruch von altem Schweiß anwehte, doch er hielt diese Zeit für überwunden. Und sein Appell an die einzelnen Haushalte schien überhaupt nichts genützt zu haben. Dr. Hohenadl nahm nun jeden zweiten Tag ein Vollbad, doch mit der Zeit musste er einsehen, dass, selbst wenn er seinen Baderhythmus noch weiter verkürzen wollte, keine Aussicht bestünde, eine nennenswerte Stromausbeute zu erzielen.
Er schrieb einen Brief an Senatsrat Weninger, um sich darüber zu beklagen, dass die Stadt es versäumt habe, das Reinlichkeitsbewusstsein der Bürger zu wecken. Dann legte er sich im Finsteren ins Bett. Er fing erst nach einer Woche damit an, sich wieder mehr zu regen und nahm sich vor, seine Außenkontakte noch mehr einzuschränken. Zum Ausgleich dachte er daran, sich ein Tier anzuschaffen. Ein möglichst stilles Tier, eines in einem Käfig oder in einem Terrarium. Er ging in die Zoohandlung und kehrte mit einem Hamster samt Käfig nach Hause zurück. Der Hamster verkroch sich in einem Gewühl aus Sägespänen. Erst nach zwei Wochen hörte ihn Dr. Hohenadl in seinem Käfig verhalten herumrumoren. Und nach weiteren zwei Wochen glaubte Dr. Hohenadl so etwas wie ein Sausen zu vernehmen. Er fand heraus, dass der Hamster das Rad in seinem Käfig drehte. Sofort schoss Dr. Hohenadl die Idee ein: Stromgewinnung. Nachtstrom. Im Hamster hatte er den uneigennützigen Antrieb entdeckt. Schon am nächsten Tag schloss er den Dynamo an.
Dr. Hohenadl blieb die ganze Nacht auf und verzeichnete bei Kerzenlicht die „Betriebszeiten“ des Dynamos. Er war von der Leistung des Hamsters, den er Gustav nannte, beeindruckt. Insgesamt hatte Gustav drei Stunden und vierunddreißig Minuten gearbeitet. Gustav erledigte seine Arbeit in mehreren Phasen und machte dazwischen Pausen. Dr. Hohenadl überlegte: Würde er einen zweiten Hamster anschaffen, käme er auf die doppelte Leistung. Freilich, dachte Dr. Hohenadl, wäre es günstig, würden sich die beiden absprechen und sich die Arbeitszeiten einteilen, damit es im Idealfall zu einer gleichbleibenden Stromproduktion während sieben Nachtstunden käme. Ihm war klar, dass es ihm nicht gelingen würde, die Tierchen in dieser Weise zu trainieren. Er setzte seine Berechnungen fort und kam zum Ergebnis, dass er mit zwanzig Hamstern zu einem andauernd guten Ergebnis kommen würde.
In der Fachlektüre, mit der er sofort begann, stand, dass die Hamster Einzelgänger seien. Zwei in einem Käfig würden einander tot beißen. Es blieb Dr. Hohenadl nichts anderes übrig, als an die Anschaffung von neunzehn zusätzlichen Einzelkäfigen zu gehen. Weil er aus Sparsamkeitsgründen mit dem Fahrrad unterwegs war, konnte er nicht mehr als drei auf einmal transportieren. Daher zog sich die Prozedur einige Tage hin.
Die Verkäuferin in der Zoohandlung sah ihn misstrauisch an. Sie vermutete nicht, dass Dr. Hohenadl die Tierchen als Delikatesse betrachtete, denn dazu wäre ja nicht die Anschaffung jeweils auch eines Käfigs nötig gewesen, aber geheuer kam er ihr nicht vor. Dr. Hohenadl spürte das Misstrauen und ging noch in zwei andere Zoogeschäfte. Auch die anderen Hamster bekamen den Namen Gustav. Dr. Hohenadl wollte es auf keine Namensverwirrung ankommen lassen. Zur Unterscheidung trugen sie römische Ziffern.
In den nächsten Nächten surrte es sanft in Dr. Hohenadls Wohnung. Er saß im Fauteuil und rieb sich unter einer strahlenden Lampe die Hände. Am internen Stromkreis hingen auch ein Radio und ein Licht in der Küche. Nur ein penibler Beobachter hätte geringfügige Stromschwankungen wahrnehmen können.
Von nun an machte Dr. Hohenadl die Nacht zum Tag und umgekehrt. Er hätte jetzt sofort Senatsrat Weninger in einem Brief von seinem Triumph schreiben, davon schwärmen und sich die Hamstermethode als ideale Gewinnung von Nachtstrom patentieren lassen können. Auch die Möglichkeit fiel ihm ein, gemeinsam mit der Stadt Wien ein Hamstermonopol zu schaffen. Seine Laune war aber so glänzend, dass er sich mit jemandem wie Senatsrat Weninger gar nicht mehr auseinandersetzen wollte.