„… immer noch der Alte, zu allem fähig“
MARIONETTENTHEATER / VOR DEM RUHESTAND
07/10/11 Das Landestheater nutzt das benachbarte Marionettentheater, aber das darf nicht über die Dimensionen täuschen: Thomas Bernhard zeigt uns keine fädengesteuerten Puppen, sondern selbstbestimmte Ewiggestrige. Wie jedes Jahr feiern sie Himmlers Geburtstag.
Von Reinhard Kriechbaum
„Das sind alles ganz inkompetente Leute, die in der Vergangenheit wühlen“, sagt Vera, die ältere der beiden Schwestern. Aber es besteht ohnedies keine Gefahr, dass jemand wühlt: Rudolf war zwar stellvertretender KZ-Chef, und für zehn Jahre war er nach dem Krieg untergetaucht im Keller des eigenen Hauses. Heraus kam keine Leiche, bis zum Gerichtspräsidenten hat er es gebracht. Jetzt steht er „Vor dem Ruhestand“ – so heißt Thomas Bernhards „Komödie von deutscher Seele“, zu der ihn Ende der siebziger Jahre eine wahre Begebenheit animiert hat. Der deutsche CDU-Politiker Hans Filbinger musste damals als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth und der Regisseur Claus Peymann hatten die Sache wesentlich mit ins Rollen gebracht.
Von solchen „Gefährdungen“ ist Rudolf in Thomas Bernhards Stück weit entfernt, im Gegenteil. „Jedes Mal, wenn Rudolf das Wort ‚Vaterlandsliebe‘ sagt, wird applaudiert.“ Aber zu Hause lebt Rudolf in seiner eigenen ur-braunen Denkwelt. Er weiß alles über Juden, Wirtschaft und Ruin der Welt. „Im Geheimen … dabei denkt die Mehrheit wie wir“, klagt die Schwester Vera. Die andere Schwester, Clara, sitzt im Rollstuhl. Beim Bombardement ihrer Schule wurde sie in den letzten Kriegstagen zum Krüppel. Sie ist die Renitente in der Familie, aber sie kann nur – schweigen. Heute ist ein besonderer Tag, Himmlers Geburtstag. Der hat einmal das KZ inspiziert und mit Rudolf zu Mittag gegessen. Das familiäre Gedenkessen ist bizarre Tradition geworden. Da legt Rudolf die SS-Uniform und die polierten Stiefel an, schnallt sich die Pistole um. Man schaut sich Bilder im Album an. Stolz ist Rudolf auf jede erfüllte „Pflicht“. „Ich bin immer noch der Alte, zu allem fähig.“
Interessanter als Rudolf mit seinen markigen Sprüchen ist Clara, die Meisterin des Verdrängens und Schönfärbens. Die gelebte Lebenslüge. Mächtig (in bezug auf die von ihr drangsalierte Schwester) und ohnmächtig zugleich (mit dem Bruder verbindet sie ein inzestuöses Verhältnis) palavert sich Clara durchs unerfüllte Leben, jeder Satz ein Fallstrick für die eigene Seele. Ein großer Abend für Alexandra Tichy. Clara (Britta Bayer) muss böse Miene zum bösen Spiel machen. Verhärmt schaut sie drein, und nur ganz selten begehrt sie (erfolglos) auf. Gönnerhaft jovial ist Rudolf (Pavel Fieber) zur behinderten Schwester – die er vielleicht nur deshalb nicht ins Heim abgeschoben hat, um stets ein Erinnerungsmal für die Schlechtigkeit des Feindes zu haben. Hätte er eine echte Familie, vielleicht würden ihn viele für einen netten Opa halten. „Immer ist über alles Gras gewachsen, man muss es nur genießen, das Alter“, beruhigt ihn seine Schwester einmal.
Das Leben der drei läuft nach der einmal von Clara dezidiert ausgesprochenen Devise: „Die Kunst besteht darin, den Gehassten nicht ganz zu töten.“ Das hat Claus Tröger mit der nötigen Schärfe, zugleich zurückhaltend inszeniert, über weite Strecken leise, intensiv und mit präziser Charakterzeichnung. Erstaunlich, wie viel Hellsichtiges und unsere Zeit Betreffendes in dem 1979 uraufgeführten Stück Thomas Bernhards steckt. „Vor dem Ruhestand“ ist ein Theatertext mit gefährlichen Zwischentönen, eine Menage á trois von eigentlich Untoten, die sich gewiss sind: „Wir werden bald wieder an der Macht sein.“