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Atemlose Angst und der erste Kuss

KAMMERSPIELE / TAGEBUCH DER ANNE FRANK

07/02/22 Inzwischen gibt es authentische Lebensberichte zu den Gräueln der Nazi-Diktatur auch im Bereich der Literatur für Kinder und Jugendliche in ausführlicher Breite. Das Tagebuch der Anne Frank ist nach wie vor eine Ikone der Erinnerungskultur für diese Zielgruppe.

Von Erhard Petzel

Das Tagebuch der Anne Frank, als Initialzündung zeitlos und offensichtlich immerwährend gültig, führt also in etlichen Formen medialer Aufbereitung ein ungebrochen aktives Leben aus dem Mord an seiner Autorin. Es liegt für ein Stadttheater nahe, diesen Stoff auf der Bühne zu realisieren, auch wenn man vor der Herausforderung steht, der Bekanntheit des Sujets, seiner bisherigen Präsenz und den Bedürfnissen des anvisierten Publikums Genüge zu tun.

Lisa Fertner spielt in den Kammerspielen des Salzburger Landestheaters Anne Frank im Bühnenbild von Sonja Böhm. Es bildet das Zimmer des Mädchens im Amsterdamer Hinterhaus nach. Die aufgehängten Poster bilden fürs junge Publikum eine Brücke in die Gegenwart. Die Rückwand klappt für Träume und Reflexionen auseinander. Die Personifizierung des Tagebuchs als Kitty liefert der Dramaturgin Patricia Pfisterer die dramaturgische Steilvorlage, die heute sehr gängige Monologform ganz natürlich aus dem vorliegenden Material theatergerecht auszugestalten. Zusätzlich rhythmisieren Annes Gymnastikübungen und sparsam eingesetzte Musikeinlagen die in der Chronologie belassene Handlung. Die Tagebucheintragungen sprechen ja für sich, bauen einen dramaturgischen Spannungsbogen auf und bieten dem jugendlichem Publikum Identifikationsmöglichkeit an.

So wird das Spiel aus dem Tagebuch zur sinnlichen Abhandlung der Auseinandersetzung eines pubertierenden Mädchens mit der Welt, die hier in ihrer lokalen Verdichtung einen Extremwert erreicht. Einige Elemente klingen für die aktuelle Situation heutiger Jugendliche wieder viel vertrauter, als das vor zwei Jahren noch denkbar gewesen wäre. Ein gemeinsames Lernen mit anderen in der Schule als Sehnsuchtswunsch zum Beispiel. Das Leben davor wird als Götterleben erkannt und nachträglich geschätzt. Aber vor allem die plastische Auseinandersetzung mit den hoffnungslos verkorksten Erwachsenen und die damit einhergehenden persönlichen Krisen machen den Stoff zur nach wie vor anrührenden Identifikationsplattform für heutige Pubertierende und Jugendliche.

Ungebrochen interessant ist Anne auch deshalb, weil sie ein aufgewecktes Kind mit großen Plänen und weitreichendem Engagement war. So finden sich das Frauenthema und Selbstermächtigungs-Anspruch durchaus in einer Intensität, die jener in unserer Gegenwart ähnelt. Herrlich die Erinnerung an Annes Strafaufgaben wegen Dauerschwätzens und dem dabei siegreich ausgefochtenen Kampf mit dem Lehrer. Dazwischen krachen Kriegsereignisse und ein Einbruch in die Fabrik mit anschließender Polizeikontrolle, die den Versteckten zum Verhängnis werden kann. Atemlose Angst steht in der Gefühlspalette neben dem ersten Kuss.

Für Lehrpersonal der Mittel- und Oberstufe ist diese Theaterproduktion ein Geschenk für ihre Klassen. Vor allem jene jungen Leute können damit abgeholt werden, denen das Lesen allein zu wenig emotionalen Zugang ermöglicht. Christina Piegger vermeidet in ihrer Inszenierung Irritationen durch logische oder emotionale Brüche, sodass eine Geschichte in der Klarheit und Eindeutigkeit ausgeführt wird, wie Kinder und Jugendliche es bevorzugen. Dazu passt das nuancenreiche, aber erfreulicher Weise nicht outrierende Spiel Lisa Fertners, die sich damit zur Identifikationsfigur und als literarische Projektionsfläche anbietet. Pfisterer und Fertner stehen im Anschluss der Veranstaltung für eine Fragerunde zur Verfügung.

In Schwung kommt die Diskussion durch Stampf-Fragen. Das entspricht einerseits der Euphorie des Schlussapplauses, soll aber auch das Publikum psychohygienisch stärken als Ausgleich zu dem Leben in ängstlichem Schweigen der acht im Hinterhaus Versteckten und letztlich Verratenen. Deren bedrängte Situation wird sowohl im Programm-Plakat wie auf der Bühne bei der Diskussion zusätzlich sichtbar gemacht.

Aufführungen bis 21. April in der Kammerspielen – www.salzburger-landestheater.at
Bilder: SLT / Tobias Witzgall

 

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