Wer ist schon ein unbeschriebenes Blatt
KAMMERSPIELE / BLUT AN MEINEN HÄNDEN
12/11/21 Österreicher gegen Jude. Israeli gegen Palästinenser. Deutscher gegen Muslim. Opfer und Täter. Täter, die zugleich Opfer sind: Ein kompliziertes Geflecht um Schuld, Sühne, Buße und Vergebung entwickelt sich in Shlomo Moskovitz‘ Stück Blut an meinen Händen. Sind wir nicht alle - auch - Gefangene unserer eigenen Geschichte, unserer Herkunft?
Von Verena Resch
Die Bühne ist dunkel, nur weiße Zeichen werden darauf projiziert. Man sieht sechs Menschen die Bühne betreten. Es wird hell. Die Menschen stellen sich mit wenigen kurzen Sätzen selbst vor. Da ist Michael, um die Fünfzig, erfolgreicher Rechtsanwalt und ehemaliger Israeli. Seine Frau Bettina ist Literaturwissenschaftlerin und hat über die Juden im Werk Thomas Manns dissertiert. Suliman, 24 Jahre, ist ein palästinensischer Flüchtling, der aus dem Gaza-Streifen nach Europa fliehen konnte. Anna, etwa Zwanzig, ist die Tochter von Michael und Bettina, Dichterin mit bipolarer Störung. Thomas ist 21, Annas Halbbruder und Mitglied einer antimuslimischen Bewegung.
Durch den Abend geführt wird das Publikum Salam, einer grauen Eselin, die schon „seit über 3000 Jahren als Metapher unterwegs ist“ und mit Weisheit und scharfem Humor und treffenden Beobachtungen glänzt: Shlomo Moskovitz‘ Stück Blut an meinen Händen hatte am Donnerstag (11.11.) seine Uraufführung in den Kammerspielen des Landestheaters.
Das Beziehungsgeflecht, das sich im Lauf des Abends entwickelt, ist höchst komplex. Suliman, frisch geflüchtet, wird von Michael angefahren. Dieser nimmt ihn wegen seiner Schuldgefühle bei sich auf, doch diese Geste stößt nicht bei allen Familienmitgliedern auf Zustimmung. Während Anna und Suliman sich einander annähern und ein gemeinsames Videoprojekt starten, vertritt Thomas weiterhin seine antimuslimische Haltung und Bettina, frustriert ob ihres eingeschlafenen Sexlebens, lädt schließlich große Schuld auf sich.
Das Ensemble rund um Christoph Wieschke beeindruckt mit ausdrucksstarken Darstellungen, die das Publikum in ihren Bann ziehen und nicht nur einmal für spontanen Zwischenapplaus sorgen. Das Beziehungsgeflecht entpuppt sich als wesentlich komplizierter, als zunächst vermutet. Da geht es um die Begegnungen von Juden und Österreichern, bei welchen stets die Frage nach der Schuld an den vergangenen Verbrechen mitschwingt. Um die Konflikte zwischen Palästinensern und Israelis. Es geht um Schuld und Vergebung, Buße und Sühne.
Auch die Frage nach dem Schicksal stellt sich, denn kann es wirklich Zufall sein, dass Suliman, der als Säugling das Massaker an seiner Familie überlebt hat, ausgerechnet von Michael gepflegt wird, der an besagtem Massaker beteiligt war? Die Frage, um die alles kreist, ist die, ob wir unserer eigenen Geschichte je entfliehen können? Können wir je ein unbeschriebenes Blatt werden?
Blut an meinen Händen – Aufführungen in den Kammerspielen bis 18. Dezember – www.salzburger-landestheater.at
Bilder: LT / Tobias Witzgall