Bohrende Fragen im Liebesnest
ARGE KULTUR / TIEF IN EINEM DUNKLEN WALD
17/09/21 Verismo heißt jene Ära, da man in der Oper lebensnahe Stoffe pflegte, die erstaunlicherweise meist in Mord, im günstigen Fall in Totschlag münden. Der amerikanische Gegenwarts-Dramatiker Neil LaBute pflegt in diesem Sinn Verismo pur, auch Tief in einem dunklen Wald.
Von Reinhard Kriechbaum
Tief in einem dunklen Wald ahnt man sowieso nichts Gutes, auch wenn – zumindest in jener Weise, wie es Regisseur Michael Kolnberger im Studio der ARGEkultur deutet – in diesem Stück ein inniger Kuss zwischen Bruder und Schwester am Ende steht. Warum es dazu kommt, darf man hier nicht verraten. Man würde der Sache allen Thrill nehmen, an dem es in den siebzig ur-spannenden Minuten nicht mangelt. Nur so viel: Dass dieser Kuss auch nur irgend etwas Gutes für die Zukunft der beiden bedeutet, davon sollte man nicht ausgehen.
Ausstatter Arthur Zgubic setzt Betty (Elisabeth Breckner) und Bobby (Bálint Walter) auf eine sich ganz langsam drehende Spielfläche. Ihre Welt wird sich zusehends auf eine Scheibe von vielleicht vier Meter Durchmesser verengen, wogegen der Psychoterror der beiden gegeneinander an 3D-Format bedrohlich zunimmt.
In eine Waldhütte (von der wir nichts, nicht mal ein einziges Requisit zu sehen kriegen) hat Betty ihren Bruder eingeladen. Sie braucht seine Hilfe, es gilt, einige Dinge wegzuräumen. Dass Bruder und Schwester einander nicht grün sind, wird rasch klar. Sie ist Wissenschafterin, Dekanin gar. Er ist deutlich schlichter gestrickt. „Buchstabenwichser“ nennt er verächtlich Leute ihresgleichen. „Ich bin deine Schwester“, sagt sie einmal, er darauf: „Ist das ein Maßstab für irgend etwas?“
Er riecht Lunte. Es stimmt etwas nicht in der Waldhütte. Bohrend sind seine Fragen, etwas zu schönfärberisch ihre Antworten. Es ist ein Liebesnest, stellt sich heraus. Der dunkelhäutige Student ist freilich nicht mehr da. Was ist aus ihm geworden? Was wird aus Bettys Beziehung zu ihrem Mann? „Wir haben die Hypothek abbezahlt und mähen den Rasen“, beschreibt sie ihre Ehesituation. Bobby bleibt hartnäckig investigativ – und es wäre nich ein Stück von Neil LaBute, falteten sich da nicht Seelenverwürfe auf, die zur Lebensaufgabe für ein Halbdutzend Psychiater taugten. Auf den ersten Blick spielt Bobby sich als der große Moralapostel auf, während Betty sich immer weiter in ihren eigenen Lügen zu verheddern scheint. Aber ganz so einfach ist's nicht.
Bei LaBute spielt die Lebensanschauung (Republikaner, Mormonen) eine Rolle. Was denen als Inzest gilt (Bobby nähert sich seiner Schwester nicht ganz absichtslos an), wertet man hierzulande vielleicht lockerer, jedenfalls vorurteilsfreier. Ein Verdienst dieser Inszenierung: Sie wirkt, ohne dem Theatertext an Brisanz zu nehmen, so gar nicht USA-gepolt.
Toll, wie Elisabeth Breckner und Bálint Walter die Psycho-Haken, die diese beiden Figuren gleichsam aus dem Sitz heraus schlagen, greifbar machen. Die Affekt-Ausbrüche, an denen es nicht fehlt, werden stets eingefangen. Hohe Glaubwürdigkeit zeichnet diese Charaktere aus. Man nimmt den beiden das allergrößte Seelengrauen ab. Es ist Schauspielertheater auf hohem Niveau.
Tief in einem dunklen Wald wäre eigentlich eine Österreichische Erstaufführung. Man redet aber von „Werkstattaufführung“. Das hat Regisseur Michael Kolnberger im anschließenden Publikumsgespräch aufgeklärt: Es hat mit den Tantiemen zu tun, eine ÖE könnte sich ein freies Ensemble nicht leisten.
Tief in einem dunklen Wald sollten sich auch andere Veranstalter vormerken: Die einfache personelle und bühnentechnische Ausstattung machte die Produktion sehr flexibel auch für diverse Kulturhäuser im Land. Das Publikum sitzt im Sesselkreis und folgt der Menschen-Entblößung mit angehaltenem Atem.