Solo für eine Amok-Läuferin
SCHAUSPIELHAUS / DOGVILLE
11/11/19 „Als ich hierher kam, hatte ich keine Ahnung, warum ich gekommen war. Ich bin überrascht worden, frustriert, alles mögliche.“ „Ich hatte keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung, dass alles explodiert und wir hier wieder abziehen müssen.“ „Ich verspreche Ihnen, Vater, dass ich nie wieder einen Film drehe mit einem geisteskranken Regisseur. Wie heißt er gleich, komischer Name. Lars von... von Trier.“
Von Heidemarie Klabacher
Nicole Kidmann, als Grace. Die legendäre Diva Lauren Bacall als Ma Ginger. „Iron Man“ Paul Bettany als Tom Edison junior. Stellan Skarsgård, weiland unterwegs als zweiter kommandierender Offizier Tupolev in der lautlosen Jagd auf Roter Oktober: Alles was Rang und Namen hat, hat sich anno 2003 an einem von der Zivilisation abgeschnittenen Filmset dem Regisseur Lars von Trier ausgeliefert. Vom Schauspieler Ben Gazzara, dem Film-Darsteller des verzweifelt seine Blindheit leugnenden Jack McKay, ist der Ausspruch im Beichtstuhl (ein solcher war aus psycho-hygienischen Gründen sicherheitshalber am Set aufgestellt), nie wieder mit einem geisteskranken Regisseur einen Film zu drehen.
Dogville. Eine junge Frau, Grace, auf der Flucht vor einem Gangster, findet auf Fürsprache des erfolglosen Schriftstellers und Dorfphilosophen Tom Unterschlupf im 15-Seelen-Dorf Dogville in den Bergen von Colorado. Als Gegenleistung für das Asyl leistet Grace Hilfe in Haus, Hof und Garten der Dorfbewohner – und wird beinahe unmerklich zur Sklavin aller. Besonders der Männer. Die beinah messianische Duldungs-, Leidens- und Vergebungsfähigkeit der schönen Fremden steigert sich mit den immer perfider werdenden Qualen. Nur Pech für die Dörfler, dass der Gangster, vor dem Grace sich versteckt, ihr Herr Papa ist...
Dogville. Von Lars von Trier 2003 nicht in einer Dorf-Kulisse gefilmt, sondern auf einer schwarzen Bühne, auf der nur Kreidestriche etwa Dorfstraße und Häuser andeuten, kam bereits 2005 in der Dramatisierung von Christian Lollike (uraufgeführt am Staatstheater Stuttgart) auf die deutsche Theaterbühne – wo der Filmplot, im Gegensatz zu so manchem Romanstoff, tatsächlich bestens aufgehoben ist. Besonders in einer so virtuosen Produktion, wie das Schauspielhaus Salzburg sie derzeit bietet.
Max Claessen, verantwortlich für Regie und Bühne, folgt dem abstrakt-verfremdenden Setting. Die Dorfbewohner sitzen zu einem Gutteil aufgereiht wie ein griechischer Chor im Hintergrund und treten quasi einzelweis hervor. Nur langsam lernt der Zuschauer die Dorfbewohner kennen: den offensichtlich reichen Jack McKay etwa, der verzweifelt versucht, seine Blindheit zu verbergen; das miteinander schwer unglückliche aber kinderreiche Ehepaar Chuck (der erste, der Grace missbraucht) und Vera, deren Interessen zwischen Obstgarten und griechischer Mythologie einfach nicht kompatibel sind. Ma Ginger, die sich manisch um die Büsche im Dorfpark kümmert und ihre Schwester Gloria, die den kleinen Laden führt...
Das Ensemble des Schauspielhauses Salzburg überzeugt mit einer hervorragenden, in sich geschlossenen und virtuos gerundeten Gesamtleistung, aus der die Einzelpersonen mit ihren Hoffnungen und Verzweiflungen wie etwa Orchestersolisten aus dem Klangkörper hervortreten, aufhorchen lassen, und wieder im Ensemble aufgehen. Als Erzähler, scheinbar neutral und doch mit vielsagenden Tonfällen und Seitenblicken, führt Bülent Özdil durch das Stück, dessen neun Szenen mit den Orignal-Szenenangaben aus dem Film überschrieben sind.
Sie alle haben ihre berührenden und abstoßenden Auftritte und erinnern in den schwarz-weißen stilisierten Schürzen und Jacken von Isabel Graf ein wenig an Amish-People oder Anhänger einer sonstigen Weltverweigerungs-Sekte. Sie alle überzeugen sprachlich und darstellerisch mit Präzision und zurückhaltendem Understatement auch im Exzess: Simon Jaritz-Rudle als Tom Edison junior (ein feiger Oportunist, der Grace dem Dorf andient, sie verkauft und verrät). Harald Fröhlich als dessen Vater Thomas Edison senior (als eine Art Dorferster). Markus Wilharm als Chuck und Susanne Wende als dessen Frau Vera. Ute Hamm als Ma Ginger und Kristina Kahlert als deren Schwester Gloria, die Grace nach und nach die zerbrechlichen Porzellan-Figurinen aus dem Schaufenster verkauft – ein zentrales Symbol a la Glasmenagerie. Christopher Schulzer als Bill Henson aus dem „Transportgewerbe“ (mit einem einzigen Handkarren als Fuhrpark) und Magdalena Oettl als dessen Schwester Liz. Marcus Marotte als charismatischer Jack McKay und Theo Helm als Ben, der mit seiner Glocke den Tagesablauf des Dorfes und alsbald den immer enger werdenen Arbeitsplan von Grace markiert.
Und schließlich Grace. Tilla Rath gibt der undurchschaubaren Figur mit ihrer unendlichen Leidensfähigkeit und unerklärlichen Opferwillgkeit eine von anfang an beunruhigende Tiefe und Vielschichtigkeit. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt, der das scheinbar so stabile soziale Gefüge des abgelegenen Dogville aus dem Lot bringt. Ein wie ein Meteor hereingeplumpster Fremd-Körper aus einer – für die armen Dörfler – unerreichbaren Parallewelt. Tilla Rath bewegt mit leisen, glasklar gesprochenen Tönen und Sätzen. Sie zieht die Zuschauer subtil manipulativ auf ihre Seite und lässt doch das ganze durchaus lange Stück über ein Gefühl der Bedrohung nicht einschlafen: eine hervorragende schauspielerische Leistung, wie die etwa einer Violinvirtuosin, die laut Part regelmäßig aus dem Orchester hervortritt und dennoch Hand in Hand arbeitet mit den Kolleginnen und Kollegen an den Pulten. Brava für die Solistin. Bravi für alle! Und jederzeit: Da Capo!