Und wenn sie nicht gestorben sind...
LANDESTHEATER / DORNRÖSCHEN
11/03/24 Tschaikowskys Ballett Dornröschen kommt im Landestheater ohne Dornen und Röschen als Geschichte ohne Moral über das Menschliche, wie es unsere Fassbarkeit übersteigt. Vom Publikum frenetisch bejubelt.
Von Erhard Petzel
Der an Grimm kulturell sozialisierte Kulturmensch deutscher Zunge steht bei der Version von Charles Perraults La Belle au bois dormant etwas an. Statt am königlichen Hofe wird die schöne Aurora (Dafne Barbosa/Mikino Karube) in den Wald zu Feen versetzt. Die sind in der Ausstattung von Judith Adam zwar hübsch farbenfroh, aber in der Inszenierung Reginaldo Oliveras auch hübsch chaotisch (sie japsen sogar zur Musik). Wollen wir wohlwollend sein und davon ausgehen, dass es doch ein guter Ort ist für ein Mädchen aufzuwachsen.
Die Fee Carabosse (Valbona Bushkola/Annachiara Corti) wird von ihren fünf Kolleginnen geschnitten und zur Tauffeier nicht eingeladen. Ihr Fluch ist mehr Theaterdonner zur Rache an diesen als Untat. Zumindest lässt sich die dargestellte Geschichte um das Verhältnis Carabosse – Aurora auch als Emanzipationsakt lesen. Denn diese Fee verfügt über spezielle Fähigkeiten: Sie kann in die Fantasie der Menschen eindringen und Zeitreisen unternehmen.
Sie zieht somit auf ihre Art Lebens- und Liebes-Fäden.
Ihre zwei Begleiter, ihr sklavisch untertan und sie kräftig im raumgreifenden Anspruch unterstützend, verstärken ihre beklemmende und einschüchternde Wirkung. Die schwarzen Schulterteile dieses Trios verfestigen einen vampirischen Eindruck, der in seiner so kühl nüchternen wie kraftvollen Erotik durch die Szenen beider Teile führt.
Steht in der historischen Aufführung 1890 am Mariinski Theater in St. Petersburg die Zeitspanne in Perraults Märchen von 1696 stilistisch zwischen 16. Jahrhundert und dem Aufwachen nach hundert Jahren bei Ludwig XIV., gibt es hier Andeutungen an die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, während die Gestaltungsideen für den zweiten Teil durchaus den Charakter unserer Zeit treffen.
Das geschieht mit feinen Nuancen bei grundsätzlich ähnlicher Ästhetik. Heben sich die bunten Feen gegen schwarze Hintergründe und große Vertäfelungen altdeutscher Prägung ab, dominieren die Bühne (Matthias Kronfuss) des zweiten Teils große Elemente in der streng arithmetischen Gliederung von Wolkenkratzern. Eine große, eigensinnige Festtafel wird zu einer schmucklosen Bank mit Leuchtfläche, auf der Désiré (Kammertänzer Flavio Salamanka) zum Ruhen abgelegt wird. Mehr ein moderner Ecce homo denn ein Prinz.
Das Licht ist dominant geworden mit komplexen Zeichen von Neonröhren (während die Feen zu geordneter Beleuchtung ihr Wesen trieben). Dennoch ist die dargestellte Welt nicht vom Geist aufklärerischem Aufbruchs durchleuchtet. Vielmehr treiben durch dunkle Brillenstreifen gesichtslose Wesen im uniformen schwarzen Outfit über die trübe Bühne (Kostüme Judith Adam). Tschaikowskys Musik für eine fürstliche Jagd schmiegt sich als ambivalente Emotionen-Maschine in die Hetzjagd von Subjekten, deren Individualität sich auf Haltungsschäden und Ticks beschränkt. Die einer etwas unbedarften Kinderwelt von bunten Prinzen rasch entwachsene Aurora (visualisiert durch entzückende Mädchen der Seat-Ballettschule) wird vom magischen Trio Carabosses hypnotisiert in die Gegenwart des ebenfalls manipulierten Désirés katapultiert.
Der Zweifler am mechanischen Getriebe seiner Umwelt wird durch den erweckenden Kuss inspiriert. Statt einer romantischen Liebesgeschichte menschlichen Zuschnitts wird Désiré zum Animator und Influencer, der seine Umgebung durch Küsse belebt und zum Spiel anführt. Aus dem trostlosen Alltagstrott treiben die Massen in panischen Unterhaltungsjux, bis Désiré die vernachlässigte Triebfeder seiner Inspiration, Aurora, im Hintergrund des fallenden Vorhangs entschwindet. Diese schmerzlich-traurige Auslegung Oliveiras wird in der modernen Tanzsprache durch die Abgründe der Musik nicht nur von den Tableaus historischer Tänze genial getragen. Désirés Fingerflimmern zum elegischen Cello erhält eine berückende Abstraktion von Verlorenheit und spielt auf das Flügelflimmern der Feen an. Stellenweise rinnt der Tanz aus. Der Liebeswalzer wird zum Impuls. Die Tiefe des Orchesters – Welch ein Segen unter Carlo Benedetto Cimento! Echte Musik statt Konserve! – trägt berückende Bilder menschlicher Abgründe im albtraumhaften Gewand des Entmärchlichten. Das wird zur Parabel auf uns heute, wo wir uns welber unbegreifbar sind. Das Angebot zu einer Anwandlung von Ahnung wurde vom Publikum frenetisch bejubelt.
Dornröschen – weitere Aufführungen im Landestheater bis 16. Juni – www.salzburger-landestheater.at
Bilder: LT / Tobias Witzgall