Katastrophen-Domino und Vorschlaghammer
WINTERFEST / ZIRKUS FAHRAWAY / BALLETT
02/12/22 Der Reiz liegt in der Poesie zwischen grobem Hintergrund – Holzpaletten – und delikater Artistik im Gewand vermeintlicher Ungeschlachtheit. Die Gefahr, die von einem geschwungenen Vorschlaghammer ausgeht, wird durch tänzerischen Einsatz nicht gebannt – auch wenn Gewissheit besteht, dass die Protagonisten perfekt aufeinander abgestimmt sind.
Von Erhard Petzel
Nicht nur die städtische Polit-Prominenz bekannte sich bei der offiziellen Begrüßung im Zeltfoyer, nach einschlägiger Berichterstattung über Subventionsstreichung, geschlossen zum Winterfest, sondern sogar der Vizekanzler der Republik persönlich. Danach eröffnete das „Ballett“ des Schweizer Zirkus FahrAwaY am Donnerstag (1.12.) als Österreich-Premiere das Winterfest im Volksgarten. „Baustelle“ ist für so manchen ein Symbol des – politisch oder auch sonst – Unerledigten. Im Zirkuszelt der Schweizer ist die Baustelle Location und Spielplatz und liefert das Material für die Performance: Eine LKW-Ladeklappe spuckt unter gelbem Blinklicht zunächst den Arbeiter aus, der die Baustelle mal einrichtet. Sodann lande per Stapelwagen auf einer Palette ein weiterer Barabaer mit Bass auf der Bühne. Schalkästen werden abgebaut und geben ein Quintett frei.
Am Ende des Abends wird eine wild aufspielende Band darin wieder verschwinden und verräumt werden. Und das ist zugleich der formale Erzählrahmen der Produktion: Es wird am Ende alles ungefähr so wieder aufgeräumt, wie am Anfang alles her geräumt wurde. Auch wenn das einen ganzen Stapelturm betrifft.
Musik ein wesentliches Element, das durch die Vorgänge entsteht, diese begleitet und unterstützt oder einfach als Selbstzweck ein paralleles Eigenleben führt und sich selbst in Szene setzt. Es gibt schon auch herkömmliches Instrumentarium wie etwa den Bass, ein Hi-Hat oder diverse Keyboards. Aber den Klang der musikalischen Eigenproduktionen des Zirkus FahrAwaY dominieren die Blue-Grass-Zupfis mit Blechdosen-Corpus. Das Hi-Hat (das Doppelbecken auf Ständer im Schlagzeug) wird zum raffinierten Partner für die innige Verschränkung mit perkussiver Kegelkunst im Duett. Wobei das Jonglieren mit Kegeln schon vorher in Partnerschaft mit dem Diabolo zur aberwitzigen Akrobatik-Paarung führte.
Nicht alles, was angedeutet wird, wird bis zur virtuosen Neige auch ausgekostet, sondern in überraschende Clownerie aufgelöst. Die Zumutung eines Saltos beispielsweise wird sowohl beim Rodeo auf Paletten-Pferd wie am Paletten-Katapult verweigert. Herkömmliche Euro-Paletten bilden generell das Herz des Treibens mit Witz und stehen mit ihrer Grobstruktur im reizvollen im Kontrast zur allgemeinen Leichtfüßigkeit. Ein Bild dazu, das Einschlagen eines Nagels zur Reparatur einer Paletten-Strebe mittels Vorschlaghammer. Paletten fallen zum Katastrophen-Domino, die schiefen Gestelle erleichern keineswegs die Folgeaktionen. Dafür wird aus diesem Wust zu einem Paletten-Rap einer grob zugeschnittenen Break-Tänzerin Palette auf Palette unterschoben, bis ein hoher Turm entstanden ist als Plattform für einen Pas de deux on Top. Ein weiterer Turm wird aufgekippt zu einer Szenerie wie für Herr der Ringe.
Die Elastizität der Paletten-Architektur erlaubt ein Verdrillen ebenso wie eine große Bauchung. Mit eingeführtem Hängeseil dazwischen und einer Stange obenauf bildet sie die Grundlage für einen weiteren atemberaubenden Paarlauf in der Choreografie zwischen diesen beiden Elementen, den auch eine Karotte im Mund nicht behindern kann.
Der Reiz dieser Produktion liegt in der poetischen Spannung zwischen dem groben Hintergrund und verfeinerter Artistik, die sich in vermeintliche Ungeschlachtheit kleidet. Die Gefahr, die von einem geschwungenen Vorschlaghammer ausgeht, wird durch einen quasi tänzerischen Einsatz nicht eliminiert, auch wenn die Gewissheit besteht, dass die Protagonisten perfekt aufeinander abgestimmt sind. Ein Wortspiel verkneift sich das Ensemble mit dem Titel der Produktion.
Natürlich ist da Choreografie für eine über reine Artistik hinaus reichende Bewegung. Wenn aber Ballett über Baustellen-Ästhetik bedient wird, könnte man hier mit Fug und Recht von einem „Palett“ sprechen. Die Truppe agiert untereinander multilingual, wobei Sprache auch weniger Informationsmedium darstellt als musikalische Struktur. Das Ensemble agiert als perfekt eingespielter Trupp mit individueller Verantwortung fürs Ganze, wobei der Bauarbeiter an sich kein Element der Inszenierung ist. Das Material steht im Dienst der künstlerischen Darbietung. Das Publikum dankte dem Zirkus FahrAwaY mit rauschendem Applaus für ihre spezielle, die dahinter liegenden Schwierigkeiten eher verschleiernde und dennoch ungemein spektakuläre Show, die ihre Kraft auch aus der klug geführten Behäbigkeit des Materials zieht.
Das Winterfest 2022 – alle Termine und Produktionen – www.winterfest.at
Bilder: Winterfest / Magdalena Lepka (2); Zirkus FahrAwaY/Tilmann Pfäfflin (2)