Vom Fremdsein in der eigenen Haut
REST DER WELT / LINZ / HIOB
27/02/15 Joseph Roth, mit seinen Endzeit-Schilderungen der Monarchie („Radetzkymarsch“, „Kapuzinergruft“) heute präsenter als mit seinem seinerzeitigen Erfolgsroman „Hiob“, war ein Meister der biographischen Langzeit-Schilderung. „Hiob“ ist nun im Linzer Landestheater auf der Bühne zu sehen.
Von Reinhard Kriechbaum
Eine vornüber hängende Wand aus altem Karton. Das Haus der Singers im Schtetl hat die Anmutung einer Favela. Die paar Sessel stehen im Wasser. Zehn Zentimeter sind es vielleicht, aber in Wahrheit steht es der jüdischen Familie bis zum Hals: Mag Mendel Singer, dieser Langzeit-Trotzgläubige, auch noch so oft hervorkehren, er sei „ein ganz alltäglicher Jude“: Mit der jüdisch-traditionellen Alltäglichkeit ist es längst vorbei im Dorf Zuchnow, ideell und materiell. Die neue Alltäglichkeit im Schtetl heißt Flucht vor der Armut: Emigration, Assimilation. Einer wie dieser Mendel Singer, der von seinem Gott Schicksalsschlag um Schicksalsschlag entgegen nimmt, sogar mit ein wenig masochistischem Lustgewinn und Selbstverliebtheit, ist eine aussterbende Spezies.
In Joseph Roths Romanfiguren hat sich die Weltlage niedergeschlagen. Genauer: Die Weltlage hat seine Figuren platt geschlagen, heißen sie nun Trotta oder hier eben Mendel Singer: der Schtetl-Hiob, den es in die Neue Welt verschlägt, die wohl größer, aber auch nicht als besser ist als das Dorf daheim.
Peter Wittenberg erzählt in den Kammerspielen des Linzer Landestheaters die Parabel von der Entwurzelung eines Menschen, der eigentlich selbst nur mehr Flachwurzler in der eigenen Kultur ist. Dieser Mendel Singer könnte für heutige Flüchtlinge und Arbeits-Migranten aus Bosnien, dem Kosovo oder aus Syrien stehen. Anfang des 20. Jahrhunderts lebte in Galizien und Wolhynien mindestens die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in bitterster Armut. Nur dünn war die Schutzfolie der eigenen Tradition, Kultur, Religion. Ähnlich mögen sich Muslime heute in Europa und in ihren jeweiligen krisengebeutelten Heimaten fühlen.
Mendel Singer ist den Seinen eigentlich nur noch Spottfigur. Vasilij Sotke spielt ihn in Linz. In Gummistiefeln sitzt er tatenlos am Bühnenrand, ein schrulliger Kauz in seiner Gottergebenheit, von der man nicht so leicht glaubt, dass sie Religiosität sei. Vielleicht versteckt dieser Mendel Singer dahinter nur seine Lethargie. Vielleicht hilft ihm der vorgeschützte Gott-Glaube bloß, sich selbst das Gefühl der Handlungsunfähigkeit nicht eingestehen zu müssen. Jedenfalls ist dieser Mendel, wie Vasilij Sotke ihn anlegt, ein liebenswerter Tragöde, ein händeringender Anachronismus.
Eine berührende Szene: Sohn Jonas (Lukas Spisser) nimmt Abschied. Er küsst die Mutter, die Schwester, sogar vom behinderten Bruder – nur Vater Mendel steht da wie eine unbeachtete Randfigur. Er kommt im Denken des Sohnes eigentlich gar nicht mehr vor. Wenn Mendel ihm dann die Hände zum Abschiedssegen auf den Kopf legt, macht Jonas am Absatz kehrt.
So und so ähnlich wird Mendel immer da stehen, nicht allein, aber isoliert. Unverstanden, weil er sich im Grunde selbst nicht mehr versteht. Ein tragischer Clown des chassidischen Judentums. Eines von dessen Symbolen, den Bart, schnallt er sich mit einem Lederband um. Es passt nichts mehr in diesem Leben, und vor allem: Es ist nicht echt.
Mendel Singer alias Hiob steht für die Hoffnungslosigkeit, im obsolet gewordenen religiös-kulturellen Schema verharren zu wollen. Das zu zeigen, nimmt sich Regisseur Peter Wittenberg in Linz viel Zeit. Da drosselt er immer wieder die Lautstärke, arbeitet die Zwiespälte zwischen den Figuren klar heraus. Dass es ein Spiel mit Schemen und Klischeebildern ist, wird bei der Bühnenumsetzung auch dieses kolportagehaft präzisen Romans kaum zu vermeiden sein. Entscheidend: Die Fallhöhe stimmt. Mendel Singer wird auch in Amerika in seiner beharrenden Gestrigkeit verharren, auch wenn das Bühnenbild jetzt von weißen Neonröhren bestimmt wird.
Über das Romanende ist immer wieder diskutiert worden: Da schneit also Menuchim, der behinderte Sohn (eine intensive Fallstudie: Markus Pendzialek), den die Singers in Russland zurück gelassen haben, unverhofft herein. Er ist jetzt geheilt, und sogar er hat es zu einer Karriere gebracht (als Musiker). Mendel Singer, der eben noch seine religiösen Fetische, die er im Rucksack immer herumgetragen hat, hat verbrennen und so mit seinem Gott – endlich – hat brechen wollen, findet sich in seiner beharrenden Gläubigkeit nun doch bestätigt. Den Schlaf des Gerechten sucht er in dieser Inszenierung nicht selbst. Man heißt ihn streng, sich hinzulegen. Der ewig Gläubige hat nicht einmal da mehr Handlungsfreiheit.