In Russland und zugleich überall
REST DER WELT / WIEN / CHOWANSCHTSCHINA
25/11/14 Der russische Dirigent Semyon Bychkov ist derzeit stark beschäftigt in Wien. In einem Abonnementkonzert steht er am Pult der Wiener Philharmoniker, und bereits seit letzter Woche leitet er die Neuproduktion von Modest Mussorgskis „Chowanschtschina“ im Haus am Ring.
Von Oliver Schneider
Die letzte und erste Premiere einer Eigenproduktion dieses Werks fand vor fast 25 Jahren unter der Leitung von Claudio Abbado statt und ist auf Audio und Video dokumentiert. Man spielt jetzt die Schostakowitsch-Fassung.
Was Bychkov dem Staatsopernorchester an Klangfarben und Präzision entlockt, macht diese Neuproduktion schon allein zu einem großen Abend. Man spürt von Anfang an, dass Bychkov die Musik im Blut liegt, und das Gefühl überträgt er auf die Musikerinnen und Musiker. In den großen Tableaus des oratorienhaften Werks mit dem russischen Volk im Zentrum ufern die eruptiven, stark emotional aufgeladenen Momente (fast) nie aus, weil Bychkov auch den Mittelstimmen und dem Holz genügend Raum gibt. Ebenso sorgsam geht er mit den (gar nicht wenigen) leisen Momenten um. Besonders eindrücklich gelingt dies, wenn der entmachtete Iwan Chowanski (Ferruccio Furlanetto), sich in seinem Haus verbergend, im vierten Akt sein Schicksal vorausahnt. Insgesamt schafft es Bychkov, mit dem Orchester für einen gewaltigen Spannungsbogen aufzubauen, unter dem die vielschichtigen Bilder der einzelnen Tableaus ihren Platz finden.
Anders als in „Boris Godunow“ steht in „Chowanschtschina“ das aus verschiedenen Parteien und religiösen Gruppen bestehende russische Volk im Mittelpunkt des Volksdramas, zu dem der Komponist selbst das Libretto verfasste. Strelitzen, Bojaren, Altgläubige, Protestanten, Machtmenschen, Idealisten und Unterdrückte. Kollektive, aus denen der Einzelne nur als Repräsentant und nicht als eigene Persönlichkeit hervortritt. Der Hauptprotagonist des Abends ist deshalb der Chor. Es sind 145 Sängerinnen und Sängern, so dass das hauseigene Ensemble nicht ausreicht. Unterstützt wird es deshalb vom Slowakischen Philharmonischen Chor (Einstudierung: Jozef Chabroň). Gemeinsam finden die beiden Ensembles zu großem, mächtigem Klang. Und es ist der Chor (hervorragend einstudiert von Thomas Lang), der dem Zuschauer klarmacht, dass es Mussorgski weniger um die Ereignisse im 17. und 18. Jahrhundert geht, sondern dass er die Zeitgeschichte und vor allem das ewige Rad der Geschichte vor Augen hat. Wir können beliebig weiterdrehen: über die Sowjetunion ins heutige Russland und bis in viele andere Länder auf der Welt, bis zu uns selbst.
Regisseur Lev Dodin hat für das oratorienhafte Werk eine einfache Idee entwickelt: Podien und ein verkohltes Holzgerüst werden mit den gerade auftretenden Solisten sowie dem Chor hoch- und heruntergefahren. Ein Agieren ist auf dem Gerüst nicht möglich, was das Ganze leider etwas statisch macht. Gut taugt es aber als Symbol für die Unausweichlichkeit des Schicksals und das Repetitive der Geschichte. Es erlaubt die starke Konzentration auf die Musik, ermüdet aber auch auf die Länge – der Abend dauert über vier Stunden.
Gesungen wird auf ansprechendem Niveau. Ferruccio Furlanetto als Iwan Chowanski präsentiert sich mit enormer Präsenz und nötigem vokalen Nachdruck. Dass er sich in der besuchten, dritten Vorstellung wegen eines Infekts nach der zweiten Pause ansagen lassen muss, tut dem keinen Abbruch. Im Gegenteil: Da er sich ab dem Moment als gebrochener Anführer gerieren muss, wirkt sein stimmlich reduziertes Deklamieren umso glaubwürdiger. Ain Anger überzeugt als fanatischer Altgläubiger Dossifei. Warum allerdings seine Anhängerin Marfa (gut Elena Maximowa) seine Geliebte sein soll, erschließt sich nicht. Iwans mächtiger Gegenspieler, der westlichen Idealen anhängende Staatsrat Golizyn, wird durch Herbert Lipperts Spiel hervorragend charakterisiert, mag man auch stimmlich einwenden, dass das russische Idiom nicht seine Sache ist. Dies gilt übrigens auch für Christoper Ventris als etwas blassen Andrei Chowanski. Andrzej Dobber singt schließlich den Bojar Schaklowity mit nötiger Schwärze, Norbert Ernst erobert sich den Schreiber als neue Partie in seinem breiten Charakterrepertoire. In den kleineren Partien lassen Lydia Rathkolb als Altgläubige Susanna Caroline Wenborne als Lutheranerin Emma aufhorchen.
Abgestimmt auf die Neuproduktion gab es auch im vierten philharmonischen Abonnementskonzert ein rein russisches Programm. Zum Start musizierten die Philharmoniker galant die Valse fantaisie in h-Moll von Michail Glinka. Dann folgte Schostakowitschs selten gespieltes zweites Klavierkonzert mit Kirill Gerstein, der vor allem im langsamen Mittelsatz überzeugte. Zum Dank für den herzlichen Jubel spielte Gerstein noch Felix M. Blumenfelds Etüde für die linke Hand, bevor Bychkov und die Philharmoniker Tschaikowskys „Sechste“ nach der Pause mit viel Gefühl, nobel und in gemässigtem Tempo erklingen ließen.