Eines Königs, eines Narren Leben
REST DER WELT / WIEN / KÖNIG LEAR
23/12/13 Das Zitat zur österreichischen Innenpolitik, eine Woche nach der deprimierend-minimalistischen Koalitionsbildung dortzulande: "Das ist die Seuche unserer Zeit: Verrückte führen Blinde." Erster und einziger Zwischenbeifall bei der Premiere von Peter Steins Lear-Inszenierung im Burgtheater.
Von Reinhard Kriechbaum
Es bleibt durchaus in Schwebe, ob das Narr-Werden nicht auch ein gütiges Geschick ist für Lear. Auch loslassen können: Klaus Maria Brandauer, kürzlich siebzig geworden, lässt da manches in der Schwebe, er mildert das Poltern und die Anklage des Machtmenschen, der sich durch den eigenen Machtverzicht selbst ausgehebelt hat. Der Narr – Michael Maertens ist in dieser Rolle ein zurückhaltend überhöhendes Alter ego – hat es nicht ganz leicht, sich zu behaupten, wird doch sein Herr zusehends zum Grand Guignol.
Ein wenig ist Brandauers Lear dies schon in der ersten Szene, wenn er mit der Reitgerte auf der auf Rindsleder gezeichneten Landkarte imaginäre Linien zieht, die man vor seinen schlichten Thronsessel ausgebreitet hat. Nein, das ist kein Monarch mit Stil, keiner der irgendetwas auf Zeremoniell oder auch nur auf Form hielte. Er hat das Reich aufgebaut, er ist der Macher, die Macht ist seins. Dieser Lear fällt wirklich aus allen Wolken und wird in den Grundfesten durchgebeutelt, wenn seine Töchter, ihre Männer und Gefolgsleute zu intrigieren und Macht hinterlistig auszuspielen beginnen.
Gloster und seinem Sohn Edgar ergeht es durch die Machenschaften des Halbbruders Edmund nicht anders: Auch sie machen das Narr-Werden als eine Art Purgatorium durch. Eine suggestive Szene: Die völlig leere Drehbühne ist in langsamer Bewegung und zieht den knietief sich ausbreitenden Nebel mit sich. In diesem weißen Sud waten Lear, der Narr, dann Gloster (famos Joachim Bißmeier) und alsbald Edgar (Fabian Krüger). Der "hauptamtliche", professionelle Narr also und drei andere, Laiendarsteller in ihrem Fach zu diesem Zeitpunkt. Sie alle müssen sich in die zur Bewältigung der je eigenen Lebensunbill notwendige Narretei erst einüben.
Wenn diese Narren dann in Zweierszenen zusammenkommen und sie ihr Los aus je eigener Perspektive beklagen, an sich selbst und aneinander wachsen – das sind die stärksten, konzentriertesten Szenen dieser Inszenierung, die freilich auf viereinviertel Stunden auch ihre Durchhänger hat. Es wird in präzisen Bildern erzählt, konzis gefasst, aber eben mit durchaus ausufernder Gründlichkeit im Einzelnen. Das Weglassen ist bekanntlich Peter Steins Tugend nicht. Also werden nicht nur im Programmheft die Figuren – auch die Nebenfiguren – mit Akribie durchdekliniert.
Beim Erzschurken Edmund (Michael Rotschopf) fällt das gediegen und anschaulich aus. Die Schwestern Goneril (Corinna Kirchhoff) und Regan (Dorothee Hartinger) sind gezeichnet als Frauen, deren Hochzeiten aus Staatsräson zu Unglück und letztlich krass deformierten Psychen geführt hat. Wenn sich ihre Rivalität um die Macht und um Edmund zuspitzt, ist das ein Zickenkrieg mit Gekreisch, aber eigentlich waren die beiden schon in der Szene am Anfang, wenn Lear das Reich aufteilt, verhärmte Zerrbilder ihrer selbst. Goneril nennt ihren Mann Albany einmal "mildherzigen Mann", Gestik und Gesichtsausdruck meinen unverblümt: Weichei. Dann heißt sie ihn gleich einen "Tugendnarr". Es wird nicht lange gehen, wird auch die jüngere Generation ihren Weg in die Narretei gefunden haben.
Wir sind in der Schlegel/Tieck'schen Fassung unterwegs, die in Wirklichkeit von Graf von Baudissin ist und von Peter Stein sanft überarbeitet wurde, mehr mit Wortkorrekturen nach heutigem Sinn und nie nach Zeitgeist. Gerade Maertens, der Narr, darf manchmal "Onkelchen" sagen zum König, der ihn dünkt "wie eine null ohne Zahl".
Die Bühne hat Peter Stein komplett ausräumen lassen, Ferdinand Wögerbauer ihm einen schmucklosen unichromen Spielraum mit ansehnlicher Tiefe zur Verfügung gestellt. Mit subtilen Beleuchtungseffekten wird gearbeitet. Nur einmal, in der Wiederbegegnungsszene zwischen Cordelia und Lear, kommt ein weißes Zelt von oben. So gut wie keine Requisiten sind nötig, sieht man von den Fahnen ab, die von den Herolden gerne dekorativ mit Wucht in den Boden gerammt werden.
Cordelia: Pauline Knof wirkt ein wenig gefangen in ihrer deklamierenden Klischeefigur. Wenn dann die älteren beiden Schwestern tot da liegen, wird Lear auch sie hereintragen, wird sie altersmilde auf seinen Schoß betten, wird sitzend sein Leben aushauchen zwischen den drei Leichnamen. Die finalen Szenen lässt Peter Stein nach und nach dekorativ erstarren, der Narrenkönig ist jetzt tauglich fürs Zeremoniell, ein Pater dolorosus. Keine gute Optik für einen Polit-Macher, aber vielleicht gefundener Seelenfriedenschmerz.