Gefallene Engel und ein nackter Gott am Klavier
REST DER WELT / STEIRISCHER HERBST / GOLGOTA PICNIC
04/10/11 Splitterfasernackt sitzt er da, der Pianist Marino Formenti. So wie Gott ihn und seinen Bösendorfer schuf. Wahrscheinlich genau für diesen Abend, für diese Theaterproduktion. Und für Haydns "Sieben letzte Worte", diese Folge von Adagio-Sätzen, die es gar nicht geben würde, wenn es Gott nicht gäbe (ein Punkt, in dem sogar geeichte Agnostiker in Argumentationsnotstand gerieten).
Von Reinhard Kriechbaum
"Gólgota Picnic" war angesagt beim Steirischen Herbst in Graz. Campingstühle auf sonst leerer Bühne, allerlei Essbares, Gemüse vor allem. Der Bühnenboden ist dicht an dicht belegt mit Hamburger-Brötchen. Die Frau in der Runde beginnt mit einem großen Lamento des gefallenen Engels, des Teufels, der offenkundig Schwierigkeiten hat mit der Landung. Was sollte er der Menschheit auch Böses bringen - ist doch alles schon mal da gewesen: "Ich kann euch weder lehren, Städte noch ganze Völker auszulöschen, ich kann euch die Techniken für einen Holocaust nicht beibringen: Das habt ihr bereits getan." Das geht eine ellenlange mit monotoner Stimme vorgetragene Litanei so dahin.
Der argentinisch-spanische Theatermann Rodrigo Garcia, 1964 in Buenos Aires geboren, erzählt vom Ur-Schlechten, vom Erz-Bösen dieser Welt. Und er fragt, mehr oder weniger explizit, ob all das Schlechte nicht (auch) im Religiösen wurzelt. Oder wachsen die religiösen Sehnsüchte gerade auf dem Humus dieses Schreckens ohne Ende? Theologen und Philosophen hätten alle Hände voll zu tun angesichts dieser dick eingekochten argumentativ und assoziativ durchwachsenen Textbrühe.
Haben wir all unsere Schlechtigkeit ererbt? Immer wieder hebt einer auf der Bühne an zu Lamenti über unser kulturelles Erbe: Ist in Rubens' Gemälde "Aufrichtung des Kreuzes" der vierbeinige Zaungast, der Hund, wirklich der einzige, der nie jemanden anderen verraten hat? Was genau beweinen die Engel in einem Fresko von Giotto?
Rodrigo Garcias "Gólgota Picnic" ist die ironische, keineswegs verbiestert-humorlose Abrechnung mit alltagstauglich zurechtgebogener Überlebensphilosophie. Da können wir zusehen, wie auf der Bühne der Fleischwolf angeworfen wird, während wir mit Jesu letzten Worten konfrontiert werden. Sosehr Garcia auch mit christlichen Versatzstücken spielt, so gerne er frivol zitiert und rotzfrech verfremdet - die sorgsam gedrechselten Paraphrasen sind nicht blasphemisch.
Kritiker aus FPÖ-Kreisen haben freilich schon vor der Premiere genau gewusst, dass christliche Lehren herabgewürdigt werden, und am Premierenabend ist vor dem Grazer Orpheum ein Grüppchen von Christentums-Rettern mit Kreuz aufmarschiert. Sie alle haben das Stück nicht gesehen. Für aus dem Zusammenhang gerissene Sekunden-Häppchen im Fernsehen böte "Gólgota Picnic" freilich genügend Material, mit dem man heftig anecken könnte. Als Ganzes ist Gracias Produktion eine Anklage auf eine nach wie vor abendländisch-christliche sozialisierte Welt, die so gar nicht im Sinne ihres Erfinders funktioniert.
Die christliche Verteufelung der Fleischeslust? Wenn zwei Männer und eine Frau ihre Haare - Haupt- und Schamhaare - einölen, sie aneinander legen, gleichsam zu Skulpturen aus Haut und Haar zusammen wachsen, sind das eindrucksvolle Bilder. Zum Teil werden kleine Handlungen riesig auf den Bühnenhintergrund projiziert. Andere Aktionen muten an wie das Zelebrieren eines wiedererstandenen Wiener Aktionismus der späten sechziger Jahre. Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch lässt in einer eindringlich choreographierten Szene grüßen, in der die nackte Körper mit roter und blauer Farbe besprüht werden. Zuletzt gibt es Abdrücke auf weißem Leinen. Wer drin eine Anspielung aufs Turiner Grabtuch sehen möchte…
Und welche Antwort gibt - Gott? Nach anderthalb Stunden wird der Bösendorfer auf die Bühne gerollt, die folgenden fünfzig Minuten gehören ihm - und Marino Formenti. Die fünf Schauspieler sitzen auf ihrem Picnic-Platz und ruhen wie einst die Jünger im Garten Gethsemanae, während Gott den Häschern zum Opfer gefallen ist: Da bleiben wir plötzlich mutterseelenallein mit Haydns Musik, sind gezwungen, einen intensiven Theaterabend im Wortsinn nachklingen zu lassen. Es bleibt viel Deutungsmöglichkeit, denn Garcia gibt uns keine Rezepte mit für die dringend anstehende Weltverbesserung.