Marionettenspieler der Gefühle
WIEN / AKADEMIETHEATER / PLATONOV
09/05/11 Das Landgut von Anna Petrovna scheint - auf den ersten Blick - wohlhabenden Leuten zu gehören. Dass der Charme längst verblichen ist, zeigt der zweite Blick… Anton Tschechows „Platonov“ in der Regie von Alvis Hermanis am Wiener Akademietheater: Trotz einiger Längen ein sehenswerter Abend.
Von Oliver Schneider
Gleich mit zwei Ansagen begann am Samstag (7.5.) ein ungewohnt langer Theaterabend, der das Wiener Premierenpublikum in jeder Beziehung forderte. Hausherr Matthias Hartmann persönlich bat zunächst um Verständnis: Man müsse eine Viertelstunde später beginnen, da etwa zwanzig Gäste im Stau stecken geblieben seien… Über Lautsprecher folgte dann noch die Ansage des lettischen Regisseur Alvis Hermannis: Es sei Teil des Konzepts, dass der Zuschauer nicht den gesamten Text verstehen werde… Dunkle Vorahnungen stellten sich aber als unbegründet heraus.
Anders als Barabra Frey in Zürich (wir berichteten am 12. April) verzichtet Hermannis darauf, das Treffen einer gelangweilten Gesellschaft zu Frühlingsbeginn auf dem Landgut der Generalswitwe Anna Petrovna Vojniceva (Dörte Lyssewski) zeitlich zu versetzen. Im Gegenteil: Geradezu liebevoll haben Monika Pormale und Eva Dessecker mit ihrer Ausstattung die Atmosphäre vor der Revolutionszeit in Russland eingefangen. Obwohl das Landgut von Anna Petrovna einen wohlhabenden Eigentümer zu haben scheint, zeigt sich auf den zweiten Blick, dass der Charme längst verblichen ist. Der Salon in der Mitte ist der Hauptspielort, doch wichtige Szenen ereignen sich auch im mit Glastüren abgetrennten Speisezimmer rechts oder auf der Veranda im Hintergrund, an den sich der Birkenwald anschließt. Naturalismus pur, wozu auch das Vogelgezwitscher und im zweiten Bild des zweiten Akts die Geräusche der vorbeifahrenden Güterzüge passen.
Schnell wird klar, worum es Hermannis und seinem Team bei dieser Deutung geht. Sie werfen einen filmischen Gesamtblick auf die in einer Sackgasse befindliche, gelangweilte Gesellschaft, die ihre Lethargie und Desillusionierung in Alkohol, enormem Niktotinkonsum, Liebesspielen und gegenseitigen Beleidigungen erstickt. Der Text steht dadurch nicht immer im Mittelpunkt, was das vollständige akustische Erfassen auch entbehrlich macht. Oft behilft sich Hermannis auch der Technik des Ausblendens, so dass die Auftritte ineinander übergehen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers automatisch von einem Gespräch auf das nächste wandert.
Der Text ist hier nur ein Mosaikstein - was Martin Wuttkes als Platonov unterstreicht. Den Universitätsabschluss hat er nicht geschafft, so dass es nur zum Dorfschullehrer irgendwo in der Provinz gereicht hat. Gleichwohl lässt er seine Umwelt seine herablassende Überlegenheit spüren. Er sorgt mit seinen Frauenaffären dafür, dass der Gesellschaft der Gesprächs- und Streitstoff nicht ausgeht. Er ist der Marionettenspieler, er hilft mit, die Fesseln der zeitlichen Verankerung der Inszenierung zu sprengen. Schlicht großartig ist, wie er den Betrunkenen mimt. Da kann auch Fabian Krüger als Sohn des reichen Juden Abram Abramovi? nicht mithalten.
Trotz der ausstatterischen Historisierung geht es Hermannis nicht darum, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Sehr genau arbeitet er Tschechows Personencharakterisierungen heraus. In den Momenten legt er auch Wert auf die Textverständlichkeit und verlangt von seinem großartigen Ensemble, zu dem auch Peter Simonischek und Dietmar König gehören, spielerisch viel. Wenn der sturzbetrunkene Stiefsohn Anna Petrovnas, Sergej (Philipp Hau?), seine Frau Sofja (Johanna Wokalek) dazu zwingen will mit seinem Freund Platonov zu reden, läuft dieses Gespräch unter Umarmungen und Küssen ab, bei denen nicht mehr klar ist, wer hier eigentlich wen lieben und nicht lieben will und soll.
Sofja ist zwar mit Sergej verheiratet, liebt aber immer noch Platonov, mit dem sie letztlich fliehen will. Nicht nur Sofja kämpft um den mit der braven Saša (Sylvie Rohrer) verheirateten Platonov, die blutjunge Marja Efimovna Grekova (Yohanna Schwertfeger) wirft sich ihm ebenfalls rasch an den Hals und schließlich auch die Gastgeberin. Zwischen Wuttke und Lyssewski entspinnt sich ein erotisches Spiel, das die wahren Gefühle der beiden füreinander offenbart, die Platonov aber aus Angst vor sich selbst nicht zulässt. Am Ende eines intensiven Theaterabends, der vor der Pause bei der Exposition der Situation Kürzungen vertragen hätte, spendete das erschöpfte Publikum allen Beteiligten herzlichen Applaus.