Will sonst noch jemand etwas sagen?
GRAZ / CHRONIK DER LAUFENDEN ENTGLEISUNGEN
23/09/24 Das Datum der Uraufführung ist möglicherweise brisanter als der Text selbst – eine Woche vor der Nationalratswahl. Chronik der laufenden Entgleisungen (Austria revisited) von Thomas Köck im Schauspielhaus Graz.
Von Reinhard Kriechbaum
Es beginnt erstaunlicherweise gar nicht mit einem FPÖ- und Kickl-Bashing, sondern am 5. Juni 2023. Da hat man bekanntlich in der Wiener Löwelstraße eine versprengte ungültige Stimme gesucht und eine Zuordnung des gesamten Wahlergebnisses in falschen Excel-Spalen entdeckt. Babler statt Doskozil! Aber grundsätzlich geht es in dem 500-Seiten-Konvolut von Thomas Köck um das Erstarken des Rechtspopulismus. Die Schauspielhäuser Graz und Wien haben, gemeinsam mit dem Kooperationspartner Steirischer Herbst, den österreichischen Dramatiker Thomas Köck beauftragt, auf die Nationalratswahl hin ein Jahr lang Tagebuch zu führen, vom Jahresmitte 2023 bis in den Frühsommer 2024: eine Chronik des politischen Tagesgeschehens in Österreich, die vielleicht erklärt, warum die Dinge so kommen, wie sie vielleicht kommen werden.
Der 1986 in Vorarlberg geborene Autor lebt jetzt in Berlin. Seine Sicht ist also eine Außenschau und Innenschau zugleich.Und ebenso wenig begnügt er sich, Dinge einfach zu Protokoll zu nehmen, so wie sie Tag für Tag über Zeitungen und andere Medien herbeigespült werden. Denn die Chronik der laufenden Entgleisungen wird auch mit Assoziationen an die Zeitgeschichte gefüllt, und ebenso mit persönlichen Randnotizen, Glossarien. „Diese Chronik ist der Versuch, vor diesem Jahr zu landen, dem Jahr und seinen Ereignissen irgendwie einen Strich durch die Timeline zu machen“, schreibt Thomas Köck.
Dass unsere Zeit und die Zwischenkriegs-Jahre einander nicht unähnlich sind, dass für die NsdAP einst ein Drittel der Stimmen ausgereicht hat, um die politischen Verhältnisse von Grund auf umzukrempeln – und ein solches Drittel von den Rechtspopulisten unterdessen nicht nur in Deutschlands erzielt wird: Dazu braucht's freilich nicht erst die Beobachtung und Analyse durch einen Literaten.
Der Eindruck nach der Uraufführung am Samstag (22.9.) im Grazer Schauspielhaus: In einem nicht unstrapaziösen Wortschwall werden eigentlich nur Dinge dahergespült, die man Tag für Tag in den Kommentaren und Analysen zu hören und zu lesen bekommt, so man zu den „richtigen“, also den Qualitätsmedien greift. Ist Bühne wirkmächtiger als das in Zeitungskommentaren geschriebene Wort? Die Frage und die Zweifel drängen sich auf, wenn sich ein Autor irgendwo zwischen Jelinek und Karl-Markus Gauß bewegt.
Vier Schauspielerinnen und zwei Schauspieler aus Graz und Wien kämpfen sich also zwei Stunden lang durch Unmengen von Text, der über weite Strecken in Ich-Form verfasst ist. Oft bilden sie einen Sprechchor, eben so oft übernehmen Einzelne die Rolle des Autors. Viel Bewegung, viel exzessives Körpertheater. „Wenn ich an Österreich denke, denke ich an das Unter-den-Tisch-Kehren“, heißt es. Unter diesem Tisch, später einmal unter dem Teppich, auf dem bildhaft alle stehen, findet sich das Klassen-System, aus dem es kein Entrinnen gibt. Wenn von vielen kleinen Pressuren auf jene erzählt wird, die eben nicht zu den gesellschaftlich Begünstigten gehören, dann verfangen sich die Protagonisten in Zwangshandlungen, in ständig wiederholte sinnlose Bewegungen und Tätigkeiten. Ein Trauma für die Betroffenen, ein starkes Bild in der Umsetzung durch die Regisseurin Marie Bues und den Choreographen Mason Manning.
Im Zentrum der Bühne (Heike Mondschein) steht ein Kobel mit Transparentwänden. Auch hinter den hohen Tischen, die die Bühne außen abgrenzen, sind Transparent-Rollos. Gelegentlich gibt’s Live-Video mit Handkameras. Oder Projektionen des Holbein-Bildes Die Gesandten. Wer sich mal von der nicht unhektischen Bühnenbetriebsamkeit abwendet und dieses Bild (dessen Exegese schon Generationen von Kunstgeschichtlern beschäftigt hat) genauer anschaut, entdeckt mit gutem Willen auch da eine Metaphorik. Allerlei wissenschaftliches Gerät findet sich zwischen den beiden soignierten Herren, aber auch ein Totenkopf als Vanitas-Reminiszenz und religiöse Anspielungen. Dass die Religion der Rechten als scheinheiliger ideologischer Anknüpfungspunkt herhalten muss, geht aber aus dem, was vom Text an dem Abend rüberkommt, nicht hervor (oder ist untergegangen im Überdruck der Wortfluten).
Chronisches zuhauf, von Udo Landbauers Liederbuch-Affäre und seiner politischen Wiedergeburt nach der Niederösterreich-Wahl bis zu den Waffengeschäften des Gaston Glock mit der Republik und dem wohl gelittenen Kunst-Mäzenatentum der Heidi Horten mit dem einst arisiertem Geld ihres Gatten. „Alle pokern weit über ihre Verhältnisse“, heißt es einmal. Ja, und dann erst das „Normale“, das „diktieren soll, was die Norm werden soll“. Es hat ja wirklich nicht gefehlt an Entgleisungen, die Inhalt und Stücktitel spenden.
Dass „Österreich nie etwas gewusst“ hat, das haben Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek schon hinlänglich abgearbeitet. „Ich habe keine Lust mehr auf meine eigenen Erklärungen“, hat Thomas Köck einmal resignierend notiert. Frage ans Publikum zuletzt: „Will sonst noch jemand etwas sagen?“ Will nicht. Blackout.