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Der Prozess wird vertagt

WIEN / JOSEFSTADT / SIE SAGT. ER SAGT.

09/09/24 Und wieder holt uns Ferdinand von Schirach in den Gerichtssaal, das Urteil bleibt diesmal aber so offen wie die Wahrheit verschleiert. Uraufführung von Er sagt, Sie sagt. in den Kammerspieles der Josefstadt in der Regie von Sandra Cervik.

Von Reinhard Kriechbaum

Vom „voreiligen Griff nach der Wahrheit“ ist im Epilog die Rede – und damit spricht Ferdinand von Schirach einen für seine Gerichtsdramen entscheidenden Punkt an. Im Lauf Jahrzehnte währenden Arbeit in den Gerichtssälen hat der Erzählungen, Romane und Stücke schreibende Strafverteidiger die Regulative, auch Einengungen der Strafprozessordnung schätzen gelernt: „Sie kanalisieren unsere Wut, sie ordnen unsere schwankenden Gefühle, Zorn und Rache lehnen sie als Ratgeber ab.“

Doppelt wichtig, wenn es um das im Regelfall die Emotionen aufkochende Thema Vergewaltigung geht. Und genau deshalb wohl verzichtet der Autor in Sie sagt. Er sagt. auf das, was sein Stück Terror und vor allem den Bühnen-Bestseller Gott bei jeder Aufführung aufs neue spannend macht: aufs Publikumsvotum.

Wir finden uns also, übliches Setting bei Ferdinand von Schirach, im Gerichtssaal. Nach vierjähriger Beziehung haben sich eine prominente Talkshow-Journalistin und ein nicht minder namhafter Wirtschaftskapitän getrennt, angeblich einvernehmlich. Eine zufällige Wiederbegegnung der beiden hat zu einer sexuellen Handlung geführt. War es eine Vergewaltigung, wie es die Journalistin nun beschreibt? Der Angeklagte schweigt, dafür entwirft seine Verteidigerin ein ganz anderes Bild. Demnach sei ihr Mandant Opfer eines Racheakts der Frau, nachdem er – eben einseitig und keineswegs im Einverständnis mit ihr – die Beziehung aufgekündigt hatte.

Ferdinand von Schirach, der Prozess-Intimus, kennt fintenreiche Argumentationsketten und Beweisführungen von Anklägern und Verteidigern. Und er führt uns die Personnage vor, die in einem solchen Prozess zu Wort kommt, von der Gerichtsmedizinerin über die Psychologin und die Polizeikommissarin bis zu einer guten Freundin der (angeblich?) Vergewaltigten. Sie muss zum Beispiel erklären, warum die Frau, die sowohl bei den polizeilichen Vernehmungen wie auch jetzt vor Gericht so bemerkenswert reflektiert und cool argumentiert, unter Freunden als „Drama Queen“ gegolten hat. Die Bildzeitung und Social Media sind auf diesen Zug längst aufgesprungen, die mediale Vorverurteilung des Opfers als Verleumderin ist also im Laufen.

In Terror und Gott geht es um ethisch knifflige Rechtsfragen, in dieser Vergewaltigungs-Geschichte ist die Psychologie, sind mögliche Beweggründe zur Tat oder Tat-Behauptung das Hauptthema. Der Autor weiß bekanntlich spannend und dramaturgisch klug dosierend zu erzählen. Hier bringt er auch geschickt viel Basiswissen ein. Er lässt die Sachverständigen über Dunkelziffern, über Gründe später Anzeigen und auch über die Verfasstheit vergewaltigter Frauen berichten. Insofern ist Sie sagt. Er sagt. auch schulfunktauglich. „Es gibt keine Wahrheit um jeden Preis“, lässt Ferdinand von Schirach im Epilog sagen, und das zeigt er auch immer wieder, indem er in den vermeintlichen Gerichtsbericht unerwartete Wendungen einbaut, die auch sehr plausible Behauptungen relativieren.

Juristerei auf schwankendem Boden. Ja, da haben sich eindeutige Spermaspuren auf einem Kleid gefunden – aber hat die Frau dieses Kleid überhaupt getragen an dem Tag der Vergewaltigung? Aufnahmen von Überwachungskameras in einer Hotellobby und in einem Stiegenhaus bringen die Anklage gehörig ins Strudeln, bis ein Taxifahrer, der ganz unverhofft aufkreuzt im Gericht, zumindest in dieser Sache Klarheit schafft. Aber was ist schon Klarheit?

In den Kammerspielen der Josefstadt hat Sandra Cervik, regieführendes Ensemblemitglied, ihre Kolleginnen und Kollegen ziemlich optimal besetzt. Hauptfiguren sind die beiden Anwälte: Joseph Lorenz ist Anwalt der Frau, eine Mischung aus galligem Routinier und besserwisserischem Grandseigneur seiner Zunft. Er redet gerne dazwischen und attackiert die Verteidigerin des Beschuldigten untergriffig. Martina Stilp ist aber nicht minder auf Kollissionskurs zum alten Kollegen, alert, eloquent, immer sprungbereit. Ist die mutmaßlich Vergewaltigte – Silvia Meisterle – nun Opfer oder baut sie intellektuell gewieft an einem Lügengebäude, um den einstigen Geliebten zu ruinieren? Dem hat seine Verteidigerin ja ein Schweigegebot auferlegt – Herbert Föttinger macht also fast eindreiviertel Stunden lang ein Pokerface. Man denkt schon fast, dass der Autor mit dem Stücktitel Sie sagt. Er sagt. eine Finte gelegt hat. Aber dann redet der Mann ja doch. Das ist ein beinahe von Humanismus geprägtes Plädoyer in eigener Sache, das freilich mit einer überraschenden Wende wieder relativiert wird.

Eine Fernsehadaption des Stücks hat es heuer, ein halbes Jahr vor der Bühnen-Uraufführung jetzt in der Josefstadt, schon gegeben. Man darf trotzdem keine Einzelheiten verraten, die Sache lebt schließlich von der Spannung und den sich immer wieder wandelnden Blicken aufs nur scheinbar Offensichtliche. Groß das Plädoyer des Anklagevertreters, das wohl Denk- und Diskussionsstoff für ein ganzes juridisches Seminar für Richteranwärter hergäbe. Dieser Prozess jedenfalls wird vertagt.

Aufführungen bis 13. Juni 2025 – www.josefstadt.org
Bilder: Theater in der Josefstadt / Moritz Schell

 

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