Die Oper wird schon arg strapaziert
WIENER FESTWOCHEN / LULU
31/05/23 Als Choreographin ist die aus Kap Verde stammende Tänzerin und Choreographin Marlene Monteiro Freitas wiederholt bei den Wiener Festwochen zugange gewesen. Jetzt führte sie zum ersten Mal Opernregie, in Alban Bergs Lulu. Sie bringt in den Opern-Torso Performerinnen und Performer ein, die rätselhafte Geschichten erzählen.
Von Reinhard Kriechbaum
Eben hat Lulu dem sie anhimmelnden Alwa entgegengeschleudert, dass sie es war, die seinen Vater, Doktor Schön, umgebracht hat. Mit stolzen Blick, unverwandt ins Publikum gerichtet, ist sie abgegangen. Alles andere als eine gehetzte Mörderin auf der Flucht. Jetzt folgen noch – eine lange Tradition in der Aufführungsgeschichte der vom Komponisten zweiaktig hinterlassenen Oper – die beiden Instrumentalnummern aus dem dritten Akt.
Ein Mann, schwarz mit Hut, erwartet die Braut. Und die kommt. Auf Knien bewegt sie sich zentimeterweise vorwärts, ein verkrüppeltes Wesen mit grell geschminktem Masken-Gesicht. Es ist wohl die uralte Lulu, selbst in diesem Zustand noch Heiratskandidatin, Ziel männlicher Erwartungen, Sehnsüchte, Fantasien. Die fatale Geschichte mit ihr und um sie wird endlos weiter gehen.
Wiener Festwochen und Theater an der Wien zeigen Lulu als Koproduktion im Museumsquartier. Eine Spielfläche zu ebener Erde, mit vielen schlichten Bänken, Stühlen. Im Lauf des Abends wird viel herumgetragen, beiseite und wieder herbei geräumt. Auf einem turmartigen Aufbau inmitten des Geschehens der Dirigent. Das Orchester sitzt auf einem ansteigenden Podium dahinter, dem Publikum also frontal gegenüber. Der Tierbändiger präsentiert seine Menagerie, Lulu als Schlange. Vielleicht sollen wir an eine Arena mit Schaukämpfen denken, jedenfalls sitzen die Handelnden der ersten Szene wie Journalisten seitlich an drei Tischen und heben Zettel, als seien sie Juroren.
Marlene Monteiro Freitas entwickelt die folgenden zweidreiviertel Stunden tatsächlich als eine Art Schaukampf, bei dem Lulu immer die Agierende ist. Acht Performerinnen und Performen mischen kräftig mit. Meist scheinen sie in Dreier- und Vierergruppen das Geschehen zu illustrieren, zu parodieren, zu überhöhen. Von einem „archaischen Labyrinth von Fabelwesen, Mischkreaturen, karnevalesken Geschöpfen und den Klippklappfiguren des Stummfilms“ kann man im Programmheft lesen.
Es sind alle gleich gekleidet, in schwarzen Hosen, weißen Hemden, darüber tragen sie wie gestutzte Fräcke wirkende Jacken. Gamaschenartige blaue Schuhe. Blaue, manchmal grüne Handschuhe. Gelegentlich hantieren diese Leute mit Handtüchern. Manchmal scheinen den Männern – Assoziation Brett vor dem Kopf – schwarze Hüte an die Stirn genagelt. Bewegungstechnisch passiert da sehr viel in kleinen, ruckartigen Schritten, vorwärts, seitwärts im rechten Winkel. Man könnte an ein imaginäres Schachspiel denken. Ein überschaubares Bewegungsrepertoire jedenfalls und trotzdem recht viel Getriebe auf der breiten Spielfläche, sogar seitwärts und ganz hinten, hinter dem Orchester. Gar nicht leicht, das immer alles im Blick zu behalten. Wir hüten uns vor Interpretation – aus diesem rätselhaften Getriebe muss jeder seine eigenen Schlüsse ziehen und nach individuellen Anknüpfungspunkten suchen.
Die Aufführung lebt von einer Musik, die auch in solchem Setting nicht umzubringen ist. Und von Stimmen, die auch deshalb ziemlich gewaltig anmuten, weil eben alles vor dem Orchester passiert (der Graben ist schon eine sinnvolle Erfindung). Von dort hinten jedenfalls hört man nicht immer das Maximum an Transparenz. Auch mit den diese Zwölftonmusik so prägenden Tanzrhythmen hält es Maxime Pascal nicht gar so sehr. Das dürfte schon mehr Tiefenschärfe haben. Dafür lässt der junge Dirigent das Melos sinnlich fließen, und das ist ja auch nicht unwichtig.
Es ist ein großer Abend für Vera-Lotte Boecker, eine Lulu, der man eine gewisse unergründliche Gefährlichkeit abnimmt. Diese Stimme kann fordernd klingen, mit hohen Koloraturen, die ein Glas zerspringen lassen könnten. Und ist's, wenn Lulu sich den Männern scheinbar hingibt, bloß Verstellung? Sängerisch ein differenziertes Rollenbild jedenfalls, von enormer Energie und Durchhaltevermögen getragen.
Das braucht's auch, wenn man es mit Bo Skovhus als Doktor Schön zu tun hat, oder mit Tenören wie Edgaras Montvidas (Alwa) oder Cameron Becker (Maler). Kurt Rydl ist ein gefährlicher Schigolch, den Doktor Schön aus gutem Grund nicht im Haus haben will. Anne Sofie von Otter ist eine eher als statuarisch gezeichnete Gräfin Geschwitz und Katrin Wundsam ein unverdorben schwärmender Gymnasiast. Martin Summer (Tierbändiger/Athlet) läuft im zweiten Akt quasi als Spielmacher auf der Bühne zur Vollform auf.
Das Premierenpublikum hat den Beifall für die Gesangssolisten wohl dosiert, Vera-Lotte Boecker und Bo Skovhus gefeiert. Marlene Monteiro Freitas wurden dann nicht wenige Buhrufe entgegengeschleudert. Vielleicht ist diese Regie doch zu kryptisch ausgefallen. Wobei man schon betonen muss: So eigenartig das Bühnengetriebe gelegentlich anmutet, so sehr es gelegentlich auch ablenkt von der Musik - ein hoch entwickeltes Sensorium für die Musik ist Marlene Monteiro Freitas nicht abzusprechen. Schließlich ist Choreographin ihr Brotberuf. Die Oper wird aber schon sehr strapaziert.
Aufführungen bis 6. Juni in der Halle E im Museumsquartier – www.festwochen.at
Bilder: Wiener Festwochen / Monika Rittershaus