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Darf er sein Leben zu Ende gelebt haben?

GRAZ / SCHAUSPIELHAUS / GOTT

07/02/22 Von einem durchaus erstaunlichen Gesinnungswandel im Lauf eines Theaterabends ist zu berichten. Das Publikum bekommt ein Abstimmungs-Tool und darf drücken: Ist es statthaft, dem seines Lebens überdrüssigen Herrn Gärtner ein Medikament zur Sterbehilfe auszuhändigen?

Von Reinhard Kriechbaum

Beim Testdurchlauf zu Beginn der Aufführung im Grazer Schauspielhaus scheint das Votum sonnenklar: 77 Prozent im Publikum sind dafür, 29 Prozent sind gegen den assisrtierten Suizid. Am Ende von Ferdinand von Schirachs Stück Gott hat sich die Meinung im Publikum deutlich geändert: Da waren am Premierenabend nur mehr 57 Prozent dafür, dass der Mensch Gott spielen soll, wogegen der Anteil jener mit den Vorbehalten auf 43 Prozent gewachsen ist. Selten wird möglicher Denk-Input durchs Theater so anschaulich.

Das Stück zur Frage des assistierten Suizids erlebte vor gut drei Monaten im Schauspielhaus Salzburg seine Österreichische Erstaufführung. Das Salzburger Premierenpublikum votierte damals mit 63 gegen 37 Stimmen für die Beihilfe zum Selbstmord (in Folgeaufführungen war's, so hört man, auch immer eine Mehrheit, wenn auch nicht mit so großem Abstand).

Der Autor Ferdinand von Schirach weiß als Bestseller-Autor, was Sache ist – sowohl hinsichtlich der Themenwahl als der Erwartungen im Publikum. Man darf annehmen, dass er selbst vorbehaltlos die Pro-Taste drücken würde. Jedenfalls hat in dieser imaginären Verhandlung vor der Ethik-Kommission, in deren Verlauf Sachverständige (Jus, Medizin, Theologie) ins Kreuzverhöhr genommen werden, der Anwalt des sterbe-willigen alten Herrn Gärtner die besten Karten.

In der Grazer Inszenierung von Bernd Mottl spielt Mathias Lodd diesen eloquenten Fragesteller – oder sagte man besser Bedränger – mit einem gehörigen Schuss Herablassung und Besserwisserei: Freiheit, Selbstbestimmung – was sonst könnte, sollte, dürfte Richtlinie heutigen Handelns sein?

Das Stück heißt Gott, und der alte Herr im Himmel ist mitsamt seiner unser Leben schützenden Kirche eher als abschreckendes Beispiel gemeint. Es fehlt diesem Theatertext, der der aktuellen österreichischen Rechtslage angepasst wurde, per se nicht die Polemik, auch wenn vordergründig die Pro- und Kontra-Argumente vermeintlich gleichberechtigt niederprasseln.

Ferdinand von Schirach lässt letztlich jene, die gute Gründe gegen den assistierten Suizid vorbringen, mit ihren Argumenten gegen den Rechtsanwalt-Juppie auflaufen. Das will der Regisseur offenbar so nicht taxfrei unterschreiben. Allein, dass er den Rechtsanwalt gar so selbstgewiss agieren lässt, lässt die Alarmglocken klingeln. Gerhard Balluch ist der lebensmüde Witwer, der seiner Frau folgen und dabei „alles richtig“ machen möchte. Sein Entschluss steht fest: „Sie ist weg und ich bin noch da.“ Damit hat sich das Leben für ihn erledigt. Balluch hat das Charisma und er ist natürlich ein Sympathieträger. Die Frage ans Publikum – Ist's recht, wenn er das Todes-Medikament bekäme? – dürfte man im individuellen Fall wohl bedenkenlos mit ja beantworten. Aber Herr Gärtner in seiner Reflektiertheit ist eben nur ein Einzelfall. Lebensmüdigkeit hat viele Gesichter, in den meisten Fällen wären eher Psychologie und Palliativmedizin die besseren Adressen als Sterbehilfe-Organisationen. Wer einen Schritt weiter denkt, zögert zumindest beim Drücken der Ja-Taste.

Eine Schlüsselszene an diesem Theaterabend: Bevor dass Publikum votieren soll, ist es zwei Minuten lang eingeladen, zu refelktieren, eventuell sich mit den Sitznachbarn auszutauschen. Auch die Protagonistinnen und Protagonisten auf der Bühne geben sich dem Small Talk hin, nur Herr Gärtner sitzt allein, von niemandem angesprochen, in seinem Stuhl. Das ist bezeichnend für die Debatte, wo zwischen lauter hehren oder polemischen Beiträgen der Mensch, um den es eigentlich geht, aus dem Blickfeld gerät.

Wichtiger als die Argumente für oder gegen den assistierten Suizid wären allemal solche, die unseren Begriff von Freiheit, von vermeintlich unverhandelbarer Selbstbestimmtheit abzuwägen helfen. Darum macht Ferdinand von Schirach einen ganz weiten Bogen.

Aufführungen bis 9. April – www.schauspielhaus-graz
Bilder: Schauspielhaus Graz / Lex Karelly
Zur Besprechung der Aufführung im Schauspielhaus Salzburg
Wem, wenn nicht uns, gehört unser Sterben?

 

 

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