Täterinnen gab es auch
WIEN / HAUS DER GESCHICHTE / DER KALTE BLICK
07/05/21 Eine vergessene Fotoschachtel, zufällig entdeckt 1997 im Naturhistorischen Museum. Die Beschriftung: Tarnow Juden 1942. Drin waren Fotos von jüdischen Familien – Teil eines Projekts zweier junger Nazi-Anthropologinnen zur Erforschung „typischer Ostjuden“ im Jahr 1942. Nun stehen die Aufnahmen im Zentrum der Ausstellung Der kalte Blick. Am Samstag 8. Mai jährt sich der Tag der Befreiung.
Opferschicksale und die Auseinandersetzung mit NS-Verantwortung stehen im Zentrum der Schau Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów im Haus der Geschichte. Die deutsch-englisch gestaltet Foto-Ausstellung, entstanden als Kooperation zwischen dem Naturhistorischen Museum Wien, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors, wird erstmals in Österreich gezeigt. Die Schachtel, in der die Fotos der Juden und Jüdinnen aus Tarnów aufbewahrt und gefunden wurden, ist im hdgö erstmals im Original zu sehen. Entdeckt wurde sie von der Kuratorin Margit Berner im Jahr 1997 in der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien. „Die Fotos waren Teil eines Projekts zur Erforschung „typischer Ostjuden“ im Jahr 1942, das die Wiener Wissenschaftlerinnen Dora Maria Kahlich und Elfriede Fliethmann im März 1942 in der deutsch besetzten südpolnischen Stadt Tarnów durchführen“, erklären die Verantwortlichen. „Mit kaltem Blick untersuchen und fotografieren sie 'rassenkundlich' 106 jüdische Familien, insgesamt 565 Männer, Frauen und Kinder. Von diesen überleben nur 26 den Holocaust und können später davon berichten.“
In jahrelanger Forschung sei es gelungen, die Fotos mittels weit verstreuter Aufzeichnungen und umfangreicher Archivrecherchen namentlich zuzuordnen und die Todes- sowie Lebenswege der Portraitierten zu rekonstruieren. „Die Ausstellung erzählt vom Leben der Jüdinnen und Juden in Tarnów vor 1939 und von deren Ermordung – als einem Beispiel unter Hunderten für die Verfolgung und Vernichtung jüdischer Gemeinden in Polen.“ Kuratoren sind Margit Berner (NHM Wien), Ulrich Baumann (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas), Stephanie Bohra (Stiftung Topographie des Terrors) und der Historiker Götz Aly. Zentral thematisiert wird auch „das ehrgeizige Vorgehen der beiden jungen österreichischen Anthropologinnen, die durch die kriegsbedingte Abwesenheit ihrer männlichen Kollegen Karriere machen konnten“.
Die Schau war, von Publikum und Kritik hochgelobte bis April in Berlin zu sehen. Das hdgö zeigt sie nun auf dem Alma Rosé-Plateau der Neuen Burg: Diese Fläche hat das Museum vorrangig dem Holocaust und seinen Nachwirkungen gewidmet. „Österreich hat lange Zeit eine Opferrolle eingenommen, ein Umdenken begann erst in den späten 1980er Jahren. Eine breite öffentliche Diskussion zur Rolle von österreichischen Täterinnen und Tätern im Nationalsozialismus fehlt jedoch bis heute. In diesem Fall sind es zwei Wiener Wissenschaftlerinnen, die sich von ihren rassistischen Forschungen Chancen erhofften und die NS-Rassenideologie zum persönlichen Karriere-Vorteil nützten. Wir sehen diese Ausstellung als wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Verantwortung Österreichs an den Verbrechen des NS-Regimes“, sagt hdgö-Direktorin Monika Sommer.
„Die Ausstellung ist nicht nur eine Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, sie ist auch ein Aufruf an die Wissenschaft, Position zu beziehen und unterschwellige Vorurteile zu identifizieren. Speziell die Anthropologie als umkämpftes und nach vielen Seiten offenes Forschungsfeld bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit von Messdaten und deren Interpretation durch unterschiedliche Akteure über einem Abgrund aus Vorurteilen und unreflektierten Erfahrungen“, betont NHM Wien-Generaldirektorin Katrin Vohland.
Das Konzept? Im Mittelpunkt stehen die Fotos der Ermordeten. Deutsche und österreichische Tätergruppen, die in Tarnów eingesetzt wurden, erhielten in der Schau besonderes Gewicht. „Dabei werden die Täterinnen und Täter jedoch immer den Berichten der Überlebenden, den Fotos und Lebensgeschichten der von ihnen Verfolgten und Ermordeten gegenübergestellt.“ In einem Kubus, dem „Archiv der Bilder“, zeigt die Ausstellung alle Fotografien der 106 Familien. In einer Medienstation sind die Kurzbiografien der Familien abrufbar, eine Tafel listet die „Statistik des Todes“ auf.
Von 76 Familien fand sich kein Hinweis, dass ein Familienmitglied nach dem Krieg noch am Leben war, und von knapp der Hälfte auch keine Spur in der großen Opferdatenbank von Yad Vashem. Niemand konnte nach 1945 mehr mitteilen, dass sie ermordet worden waren. Von den allermeisten Ermordeten sind die anthropometrischen Portraits, die in einer Situation der Bedrohung und des Zwangs aufgenommen wurden, die letzten und fast immer die einzigen noch erhaltenen Fotos. (hdgö-dpk-klaba)