Weihnachtskarpfen und Herrenmenschenknödel
WIEN / AKADEMIETHEATER / DER LEICHENVERBRENNER
09/10/20 Beinah kommt ihm eine zärtliche Geste für seine Frau aus, im Zoo vor dem Leopardengehege. Dort haben sie sich einst kennen gelernt. „Die Liebe hat sich über uns gestülpt wie ein Kartoffelsack“, sagt der um Poesie nie verlegene Karel Kopfrkingl.
Von Reinhard Kriechbaum
Drum lässt Karel sich von seiner Frau auch Roman nennen (steht für Romantiker). Und er heißt sie nicht Maria, sondern Lakmé, aus Liebe zur Musik. Er wird seine Gattin sogar zu Koloraturen einer Opernarie mit der Krawatte erdrosseln. Ein Schöngeist durch und durch.
Aber wir greifen vor: Erst einmal lernen wir in dem nun im Wiener Akademietheater auf die Bühne gebrachten Roman Der Leichenverbrenner von Ladislav Luks den properen Herren als vorbildlichen, treusorgenden Familienmenschen kennen. In dieser Idylle duldet er keinen Widerspruch. Zu wenig Patriot? „Ich bin Familist“, kontert Karel Kopfrkingl. Dass er verstorbene hübsche Damen im Sarg anhimmelt und auch einem Techtelmechtel mit der Putzfrau-Blondine im Krematorium nicht abgeneigt ist, was soll's. Er ist mit sich im Reinen und mit dem Lebensende sowieso, quasi berufsbedingt. Außer Verordnungen zum Kremieren liest der Leichenverbrenner nur ein einziges Buch, über Tibet, den Dalai Lama und die Wiedergeburt, an die er felsenfest glaubt.
Ein schrulliger Spinner? Das Thema des Prager Romanautors Ladislav Fuks (1923-1994) war die Aufarbeitung des Faschismus in seinem Land. Der verhaltensauffällige Leichenverbrenner spintisiert sich hinein in einen besorgniserregenden Grad der Realitätsverweigerung. Er, nach eigener Einschätzung unpolitisch bis in die Haarspitzen, wird leichtes Opfer für den Nazi-Ungeist. Ein Soldatenfreund aus dem Ersten Weltkrieg taucht auf. Es braucht nicht viel Manipulation, und aus dem harmlosen Narren wird ein gemeingefährlicher Kollaborateur. Bald wird der Leichenverbrenner Juden denunzieren und zuletzt sogar seine Frau (eine Halbjüdin) und die Kinder ermorden.
Eine krasse, psychologisch nicht unraffiniert erdachte Story, wie geschaffen für die expressiv-verschrobene Puppenwelt des Nikolaus Habjan. Der österreichische Autor Franzobel hat aus dem 1967 veröffentlichten Roman ein Bühnenstück destilliert und der keineswegs schmalbrüstigen Bizarrerie mit deftigem Sprachwitz nachgeholfen. Franzobel führt nicht eben die feine Klinge, aber das ist schon stimmig für diese literarische Vorlage. Bei Ladislav Fuks lässt zwischen den Zeilen Kafka ebenso grüßen wie der Schwejk des Jaroslav Hašek.
Michael Maertens ist der wort-urgewaltige Leichenverbrenner. In fast nicht abreißendem Monolog erklärt er seine Weltsicht, verheddert sich immer unentwirrbarer in skurrilen Ansichten. Scheinbar souverän und selbstgewiss, in Wahrheit manövriert er sich immer tiefer hinein in Abgründe – das zeichnet Maertens anschaulich und folgerichtig nach. Frau (Dorothee Hartinger) und die Kinder (Sabine Haupt, Alexandra Henkel) kommen kaum zu Wort – aber sie führen auch viele Puppen und sprechen deren Rollen. Da ist zum Beispiel ein dauer-streitendes Ehepaar. Sie erkennt die Zeichen der Zeit und sieht den Krieg heraufdämmern, er will eben dies nicht wahrhaben, beschimpft und misshandelt sie sogar.
Die Puppen-Hauptrolle hat Regisseur und Figuren-Magier Nikolaus Habjan sich selbt gesichert, jene des Deutschen Willi Reinke, der eindringt in die fragil-versponnene Ideenwelt des Leichenverbrenners und in diesem den Nazi-Fanatiker weckt. Das Gesicht hat sich Habjan als Totenkopf geschminkt.
Fulminant das weihnachtliche Familienessen. Da wirkt der Leichenverbrenner noch beinah ungefährdet gegenüber den Einflüsterungen des strammen Deutschen. Er, der dem Weihnachtskarpfen keine Schuppe zu krümmen wagte, sinniert über dessen Wiedergeburt, „und sei es als Weihnachtsgans“. Willi Reinke hakt kulinarisch nach und hält ein Plädoyer gegen tschechische Knedlje: „Ein Herrenmenschenknödel hat nicht flauschig zu sein, damit gewinnt man Kriege.“ „Er liegt einem schwer im Magen“, kontert der Leichenverbrenner da noch wacker, aber das Gastro-Gift beginnt in ihm alsbald so stark zu wirken wie die Verführung durch eine in Aussicht gestellte Karriere. Bald ist Karel Kopfrkingl Krematoriumsdirektor und oberster Chef des Sicherheitsdienstes der neuen Machthaber. „Ich soll Gasverbrennungsöfen testen“, sagt er stolz. Prag ist unterdessen annektiert von den Deutschen? „Was bedeutet das Wort 'annektiert'?“ fragt des Leichenverbrenners Frau. „Das kommt von 'anus', wir sind im Arsch“, erklärt der Sohn. Es wird seine letzte Aufmüpfigkeit gewesen sein.